Jakob Heinrich Ohm | 10. Oktober 2020
Wer ist uns heilig?
Oder: Die Corona-Krise und der Wert der Person für das Staatswesen
Die Krise: Zeit der Entscheidung
Berücksichtigt man die griechische Etymologie des im Kontext der COVID-19-Pandemie allgegenwärtigen Wortes „Krise“, dann ist nicht allein der Aspekt der Bedrohung und der möglichen Unkontrollierbarkeit zu beachten, sondern vor allem auch der Aspekt der Entscheidungszeit. Diese nämlich wird durch das griechische Wort „Krísis“ – in Abgrenzung zur ebenfalls griechischen „Katastrophe“ – zunächst bezeichnet. Es ist daher nur zu gut verständlich, dass Krisenzeiten gleichsam als Brennglas zu verstehen sind, in denen sich schon lange zuvor abzeichnende Entwicklungen manifestieren und offenbar werden, sich anderseits aber auch Gestaltungsräume und Handlungsoptionen abzeichnen. Dies ist meines Erachtens auch der Fall mit Blick auf das Staatswesen und die derzeitige Pandemie. Daher möchte ich nachfolgend am Beispiel der Sakralisierungstheorie einen kurzen Denkimpuls anbieten, welche Optionen durch die Corona-Krise zutage treten und welche Handlungsmöglichkeiten sich aus der Perspektive der Katholischen Soziallehre anbieten.
Die Corona-Krise als Nagelprobe staatlichen Selbstverständnisses am Beispiel Belarus
Zur Verdeutlichung meines Anliegens möchte ich zunächst ein konkretes Beispiel aus den letzten Monaten anführen: Als mir Ende März 2020 – also lange vor den umstrittenen Präsidentschaftswahlen – Bekannte aus Belarus einen Videoausschnitt schickten, in dem Präsident Alexander Lukashenko die Corona-Pandemie als Hysterie bezeichnete und jeglichen Schutzmaßnahmen eine Absage erteilte, war noch nicht an das Ausmaß zu denken, das die regierungskritischen Proteste in Minsk und anderen Städten im Sommer annehmen sollten. Was jedoch schon damals zutage trat: die Aussagen Lukashenkos waren für viele Belarusen der Ausgangspunkt für eine kritische Distanzierung zum Staatsapparat. Zu offensichtlich demonstrierte der Machthaber, dass der Staatsapparat nicht willens oder nicht in der Lage war, die körperliche Integrität seiner Bürger zu schützen. Ohne an radikale Maßnahmen wie etwa einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lockdown zu denken, wäre es für viele Belarusen damals schon ein wichtiges Signal gewesen, die von dem Virus ausgehende Gefahr überhaupt anzuerkennen und dafür zu sensibilisieren. Stattdessen demonstrierte der Präsident, dass er lieber das Erbe des sowjetischen Staatsverständnisses verwaltet, nach dem nicht das menschliche Individuum als Person, sondern das Staatswesen selbst mit seinen Symbolen, Institutionen und Funktionären im Mittelpunkt steht. Mit anderen Worten: Der offensichtliche Unwille des Autokraten die Gefahr der Pandemie ernst zu nehmen und die Bürger so einem unnötigen Risiko auszusetzen kann als Wegbereiter von politischen Entwicklungen angesehen werden, die bis heute andauern.
Sakralität als Parameter für das Verhältnis von Staatlichkeit und Personalität
Meines Erachtens bietet der Diskurs um den Begriff der Sakralität[1], der vor allem durch den Soziologen und Philosophen Hans Joas in den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs eingebracht worden ist, ein nützliches Instrument, um derartige Prozesse tiefer zu verstehen und sie auch in unserem politischen, gesellschaftlichen und religiösen Kontext zu analysieren. Hans Joas greift dabei auf den Diskurs um den Begriff der Sakralität zurück, der vor allem durch Protagonisten wie Emile Durkheim und Ernst Troeltsch zu Beginn des 20. Jahrhunderts geführt wurde. Laut Hans Joas ist es ein intellektuelles Gebot der Gegenwart, eine Alternative anzubieten zu der vor allem auf Max Weber zurückgehenden Erzählung von der „Entzauberung“ der Welt. Dass Menschen eine affektive Verpflichtung auf Werte entwickeln und durch Selbsttranszendierung eine Erfahrung des „Heiligen“ machen können, gilt es im Gegensatz zur entzauberten Welt zu bedenken. Das „Heilige“ wird dabei bewusst nicht allein religiös gedacht, sondern kann verschiedenen Objekten als Trägern von Sakralität zugesprochen werden. So ist Heiligkeit, entgegen der populären Semantik des Wortes, kein rein positiv besetzter Begriff. Vielmehr können auch in ideologischen Vergötzungen Sakralisierungsprozesse identifiziert werden, so etwa wenn eine soziale Klasse (Kommunismus) oder eine Volksgemeinschaft (Faschismus) überhöht werden.
Personale Sakralität und ihre Wahrung als staatlicher Auftrag
Laut Hans Joas, der sich hier auf die Achsenzeittheorie von Karl Jaspers bezieht, können Vorstellungen von Transzendenz und Selbsttranszendenz des Menschen dabei jedoch die Bindekraft eines moralischen Universalismus erhöhen, der sich bspw. in der geistesgeschichtlichen Entwicklung manifestiert, die man als „Sakralisierung der Person“[2] bezeichnen könnte. Damit ist gemeint, dass die menschliche Person selbst ein Objekt unbedingter moralischer Verpflichtung darstellt. Im Umkehrschluss birgt dieser Ansatz ein enormes Potenzial an Ideologiekritik: Wenn der menschlichen Person das Attribut „sakral“ verliehen wird, dann kann keine Form der staatlichen Herrschaft um ihrer selbst willen bestehen, geschweige denn selbst sakralisiert werden. Gleichzeitig ist in der Vorstellung von personaler Sakralität auch die Mahnung enthalten, dass staatliche Schutzmaßnahmen das integrale Wohl der ganzen menschlichen Person in den Blick nehmen müssen und nicht einem reduktionistischen Menschenbild das Wort reden dürfen, etwa indem der Mensch nur als zu medikalisierendes[3] Objekt der Biopolitik[4] degradiert wird. Die Corona-Krise hat demnach die Frage nach möglichen Trägern von Sakralität in ihrer ganzen Relevanz für das Selbstverständnis des Staatswesens deutlich gemacht. Aus Sicht der Katholischen Soziallehre gilt es demnach die personale Sakralität des menschlichen Individuums zu betonen und nicht müde zu werden, ein substanzielles, integrales und demnach nicht-reduktionistisches Menschenbild in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen und so auch Perspektiven für den gesellschaftlichen Wiederaufbau nach der Krise aufzuzeigen. Dieser Antwortversuch auf die Frage nach dem, was uns auch in der Krise als „das Heilige“ moralisch verpflichtet, kann dabei oftmals nur in Form einer „tiefen Praxis der Menschenwürde“[5] gegeben werden. Dies meint dann ein gegen alle Widerstände praktiziertes Bekenntnis zur Personwürde eines jeden Menschen. Wie eine solche tiefe Praxis als christliches Lebenszeugnis gelingen kann, war übrigens ebenfalls dort ersichtlich, wo der staatliche Auftrag zum Schutz personaler Sakralität versagte: Als die Caritas und die Patres der Kapuziner-Pfarrei St. Franziskus in Minsk zusammen mit weiteren Ordenschristen Schutzmasken an besonders vulnerable Mitglieder der Gesellschaft verteilten und so die Unverzichtbarkeit personaler Sakralität für ein gutes Gemeinwesen nicht argumentierten sondern erfahrbar machten.
[1] Vgl. Hans Joas, Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zu der Geschichte von der Entzauberung, Berlin 2017.
[2] Vgl. Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011.
[3] Zum Zusammenhang der Corona-Pandemie und des auf Michel Foucault zurückgehenden Begriffs der Medikalisierung vgl. Peter Schallenberg, Freiheit, Recht, „triage“ in Zeiten von Corona, Güne Reihe Nr. 469, Mönchengladbach 2020.
[4] Zum Begriff der Biopolitik vgl. etwa: Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002.
[5] Zum Begriff der „tiefen Praxis“ vgl. Clemens Sedmak, „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Zur Anwendung der Katholischen Soziallehre, Regensburg 2017, 11-16.