Stefan Gaßmann | 14. Juli 2020

Urlaub in Zeiten der Pandemie?

Ein ethischer Orientierungsversuch

Auch wenn das Wetter in Deutschland dieser Tage anderes vermuten lassen könnte: Es ist Hochsommer und damit Urlaubszeit. Aber Urlaub in Zeiten von Kontaktsperren, Maskenpflicht und Quarantänemaßnahmen? Kann das sein? Als wollte uns der Allmächtige daran erinnern, dass da etwas schief zu sein scheint, gingen in den letzten Tagen schon Schlagzeilen von dicht gedrängten Menschen in Partylaune am Ballermann um die Welt und Gesundheitsminister Jens Spahn sagte am 13.07: „Die Bilder, die wir am Wochenende von der Deutschen liebsten Insel gesehen haben, von Mallorca, besorgen mich“ und: „Wir müssen sehr aufpassen, dass der Ballermann nicht ein zweites Ischgl wird.“  Die Konsequenz der balearischen Regionalregierung kam prompt: es wurde eine allgemeine Pflicht zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes erlassen. Es rührt sich im Blick auf derartige Bilder wohl sogleich bei vielen die Frage: Ist Urlaub, Reisverkehr überhaupt, zu Zeiten einer hochinfektiösen, sich rasch verbreitenden Krankheit, die keine staatlichen Grenzen kennt, überhaupt vernünftig zu verantworten?

Mag sein, dass eine negative Antwort auf diese Frage beim Blick auf Strandparties am Ballermann verfängt, aber wenn nun eine Familie mit Kindern in einem Auto in ein abgelegenes Alpental in eine Hütte fährt, wo sie vermutlich isolierter wäre als in ihrem alltäglichen Kontext? Wäre das nicht in Ordnung? Diese zwei extremen Beispiele machen klar, dass die Frage, ob eine Urlaubsreise im Zeitalter der Corona-Pandemie verantwortbar ist oder nicht, keineswegs so leicht zu geben ist wie es prima facie möglich zu sein scheint. Auch im Blick auf Urlaubsreisen während der Pandemie gilt, was für alle ethischen Fragen in Bezug auf die Corona-Situation gilt: Leben unter Corona-Bedingungen bedarf der Ambiguitätstoleranz und vor allen Dingen einer je individuell einzunehmenden ethischen Haltung. Das betrifft dabei nicht nur eher individualethische Fragen, wie die, ob man in den Urlaub fahren sollte oder nicht, sondern auch sozialethische Abwägungen, z.B. ob eine allgemeine Maskenpflicht bestehen sollte.

Mit Ambiguitätstoleranz bezeichnet man die Fähigkeit, Uneindeutigkeiten auszuhalten, sie stehen lassen und mit ihnen leben zu können. Wie wichtig solche Ambiguitätstoleranz in Bezug auf die Frage nach der Verantwortbarkeit einer Urlaubsreise ist, zeigt sich dann, wenn sich der, zunächst für viele wohl überzeugend anmutende, Gedanke rührt, dass Urlaub doch als ein verzichtbarer Luxus angesehen werden könne, auf den gerade die wohlstandsverwöhnte westliche Hemisphäre unter Corona-Bedingungen verzichten könne. Und das nicht zuletzt mit Blick auf die ökologischen Vorteile, die ein solcher Verzicht mit sich brächte. Urlaub, nur ein schöner, aber verzichtbarer Luxus? Immerhin: Eine ganze Branche, die weltweit eine Vielzahl von Arbeitsplätzen bereitstellt und den Wohlstand ganzer Regionen sichert hängt an der Bereitstellung dieses Luxusgut. Zudem ist Urlaub für viele Menschen eine entscheidende Ausdrucksmöglichkeit ihrer persönlichen Freiheit. Und nicht zuletzt wäre zu bedenken, dass es gerade in einer Zeit, in der die Arbeitswelt durch die Digitalisierung zunehmend die Privatwelt überlagert und aufsaugt – gerade unter den Homeoffice-Bedingungen der ersten Phase der Pandemie – ein nicht zu unterschätzender Aspekt ist, dass eine Reise und die damit verbundene Nicht-Erreichbarkeit zu Erholung und psychischer Gesundheit beiträgt. Ist Urlaub also ein verzichtbarer Luxus? Ja und Nein. Und um mit diesem „Ja und Nein“ umzugehen und diese Spannung nicht in die eine oder andere Richtung aufzulösen, bedarf es eben der Ambiguitätstoleranz.

Aber Ambiguitätstoleranz bedarf man in Bezug auf Urlaub im Zeitalter der Pandemie darüber hinaus in zweiter Stufe auch im Blick auf die Corona-Bedingungen des Urlaubs: Es ließe sich fragen, ob Urlaubsreisen ein vermeidbares Ansteckungsrisiko sind. Auch hier lautet die Antwort: Ja und Nein. Zur Illustration einige Gründe für jede der beiden Seiten: Ja, weil der internationale Reiseverkehr zu einer raschen Ausbreitung des Erreger SARS-CoV-2 führen kann, ja, weil Flughäfen – laut RKI-Präsident Wiemer weniger die gut belüfteten Flugzeuge – potentielle Ansteckungsorte sind; ja, weil eine Rückverfolgung von Kontaktpersonen in einem Urlaubsort nahezu unmöglich ist; das hat man am Fall Ischgl gesehen. Nein, weil es bei Einhaltung von Hygienemaßnahmen, Abstandsregeln und dem Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes auch in Urlaubssituationen kein höheres Ansteckungsrisiko gibt, als beim Einkaufen im heimischen Supermarkt; nein, weil Urlaub auch bedeuten kann, dass man sich viel an der frischen Luft und unter freiem Himmel aufhält, also in einem Bereich in dem ein deutlich geringeres Ansteckungsrisiko besteht als in einem stickigen Büro oder einem Schlachthof in Rheda-Wiedenbrück; nein, weil Erholung die eigene Immunabwehr steckt und somit einen wichtigen Beitrag zum Gesundheitsschutz leistet. Je nachdem, welche Seite des „Ja und Nein“ akzentuiert wird, ergibt sich also schnell eine Deutung, in der Urlaub unter Corona-Bedingungen entweder eine unverantwortbare Hochrisiko-Handlung oder genau umgekehrt sogar ein Beitrag zur Vermeidung bzw. Minimierung von Ansteckungsrisiken ist. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen, denn diese ist zumeist grau und weder weiß noch schwarz.

Freilich kann der bloße Aufweis der Notwendigkeit von Ambiguitätstoleranz aus ethischer Perspektive nicht befriedigen, da sie keinerlei Orientierung für den jeweiligen Akteur mit sich bringt, der konkret entscheiden muss, ob er in den Urlaub fährt oder nicht. Der Aufweis einer Notwendigkeit von Ambiguitätstoleranz ist aber dennoch nicht ethisch neutral: Es ist wichtig, sich darüber klar zu werden, dass alle ethische Orientierung, am Ende auch nicht mehr – aber auch nicht weniger – sein kann als das: eine Orientierung. Handeln unter Corona-Bedingungen bringt immer ein hohes Maß an individueller Verantwortung mit sich. Am Ende steht der oder die jeweils Handelnde in der Pflicht selbstbestimmt die Ambiguität auszuhalten und sich für das eine oder das andere, nach sorgfältiger Abwägung von Gründen zu entscheiden. Zu diesen Gründen kann aber gerade die Sozialethik sehr wohl Richtung weisen, und dürfte damit hilfreicher sein als juristische Angaben, die beispielsweise die Verbraucherzentrale online zur Frage nach Urlaub unter Corona-Bedingungen gibt: Dort steht bei fast allen Punkten: „Im Einzelfall zu prüfen.“

Aus Sicht christlicher Sozialethik ist zentral, dass auch die Entscheidungen individueller Akteure auf das Gemeinwohl ausgerichtet sind. Gemeinwohl bedeutet im sozialethischen Kontext, die funktionale Ausrichtung sozialer und damit auch politischer Institutionen auf Bewahrung und Förderung der Grundrechte und Würde aller. Das bedeutet auch, dass die individuelle Autonomie, die das Zentrum menschlicher Würde ausmacht, nicht durch andere Rechtsgüter ausgebotet werden kann. Diese müssen vielmehr vernünftig gegeneinander abgewogen werden und pragmatische Kompromisse gefunden werden. Es geht quasi um die Schaffung struktureller Ambiguität.

Eine solche Gemeinwohlorientierung ließe sich in Bezug auf die individualethische Frage „Soll ich in den Urlaub fahren oder nicht?“ so übersetzen: Ich darf in den Urlaub fahren, wenn ich es als Ausdruck meiner Autonomie und damit meiner Würde verstehe, was mehr ist als nur ein einfaches Spaßhaben- oder Wegfahrenwollen nur um des Spaßhabens oder Wegfahrens willen. Wenn ich aber diese Würde als Begründung meiner Entscheidung in Anspruch nehme, dann bin ich auch verpflichtet, die Würde aller anderen Menschen mit meiner Entscheidung zu achten, und die Realisierung meiner Würde zu der Realisierung der Würde der anderen in ein vernünftiges Maß zu bringen. Notwendige Grundlage der Ausübung von Autonomie und Würde ist das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, zu deren Bewahrung auch die Aufrechterhaltung eines funktionierenden Gesundheitssystems notwendig ist. Daher besteht gerade dann, wenn man auf seine Autonomie rekurriert, eine grundsätzliche Pflicht, Infektionsrisiken während einer Pandemie zu minimieren, um die Funktionsfähigkeit unserer Gesundheitssysteme nicht zu gefährden.

Reise ich also in den Urlaub, um meine Autonomie zu realisieren, so verpflichte ich mich damit selber dazu Abstandsregeln und Hygienevorschriften einzuhalten. Konkret: eine solche auf Wahrung und Förderung menschlicher Würde ausgerichtete Haltung schließt unnötige Gruppen- und Erlebnisfahrten an den Ballermann wohl eher aus, aber nicht unbedingt einen Strandurlaub mit der Familie auf Mallorca. In den Urlaub zu fahren kann für den Einzelnen ein sehr hohes Gut sein, niemand hat das Recht, ihm einfach abzusprechen, dass er sich diesen „Luxus“ im Blick auf die allgemeine Gesundheitslage nicht leisten dürfe. Aber: das kann keine Rechtfertigung für eine narzisstische oder gar egoistische Bedürfnisbefriedigung sein, in der man nur um sich selber kreist. Das kann auch keine Rechtfertigung dafür sein, dass man um dem Corona-Alltag entfliehen zu können – so menschlich nachvollziehbar dieser Wunsch auch sein mag – die „lästige“ Maske beim Flanieren durch den Urlaubsort nicht aufzusetzen bereit ist. Auch die Urlaubssituation entbindet nicht von der Verantwortung, die man gegenüber der Würde aller hat, gerade auch um der eigenen Würde willen. Mit einem guten Schuss Ambiguitätstoleranz und einer auf das Gemeinwohl ausgerichteten Haltung wird man dieser Verantwortung aber auch im Kleinen, ohne allzu massiven Verzicht gerecht werden können. Dann kann man auch ruhigen Gewissens in den Urlaub fahren.

Der Verfasser

Mag. theol. Stefan Gaßmann ist Wissenschaftlicher Referent der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ) in Mönchengladbach.