Lars Schäfers | 12. April 2021
Sozialversicherung – Sozialstaat – Soziale Marktwirtschaft
Ihr sozialethischer Wert in Zeiten der Pandemie
Wir leben in einer Arbeitsgesellschaft – die berufliche Tätigkeit sichert dem Einzelnen Einkommen, Status sowie gesellschaftliche Teilhabe und Zugehörigkeit. Arbeitslose leiden daher oft nicht nur finanziell, sondern auch in sozialer und psychischer Hinsicht. Die Teilhabe am Arbeitsmarkt ist somit für viele Menschen von existenzieller Bedeutung. Doch lange nicht mehr war der deutsche Arbeitsmarkt so sehr in Bedrängnis wie seit Ausbruch der Corona-Pandemie. Deren wirtschaftliche Folgen spiegeln sich auf dem Arbeitsmarkt deutlich, den viele seit Pandemiebeginn bereits verlassen mussten. Dabei ist anzunehmen, dass ohne die Regelungen des Kurzarbeitergeldes der Anstieg sogar noch deutlich höher ausgefallen wäre. In Deutschland existiert zum Glück eine solidarische, da gemeinschaftlich getragene, gesetzlich begründete Absicherung der elementaren Lebensrisiken, von der gerade jetzt in Coronazeiten viele Menschen weltweit nur träumen können: die von Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Sinne der Sozialpartnerschaft gemeinsam durch Beiträge finanzierte und von ihnen selbstverwaltete Sozialversicherung, aufgefächert in die Zweige der Kranken-, Pflege-, Unfall-, Renten- und Arbeitslosenversicherung.
Nicht zu Unrecht hat der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt einmal im Fernsehen gesagt: „Ich denke seit Jahrzehnten, dass der Sozialstaat die größte kulturelle Leistung ist, die die Europäer – fast alle europäischen Staaten – im Laufe des 20. Jahrhunderts zustande gebracht haben.“ „Deutschland ist gerechter als wir meinen“, das betont auch immer wieder Georg Cremer, der frühere Generalsekretär des deutschen Caritasverbandes, gegenüber einseitigen Niedergangspropheten eines angeblich kontinuierlichen Sozialstaatsabbaus. Um Sozialstaat und Sozialversicherung biblisch-theologisch gedeutet als „institutionalisierten barmherzigen Samariter“ in Coronazeiten so richtig schätzen zu lernen, brauchte man nur nach Amerika zu schauen: Wegen der nur rudimentären Sozialstaatlichkeit verloren in den USA durch Corona viele Millionen ihren Job, da sie kein Kurzarbeitergeld aus einer soliden Arbeitslosenversicherung wie in Deutschland schützt. Außerdem genießen ebenfalls Millionen von US-Bürgern nicht einmal einen Krankenversicherungsschutz, was für viele nicht erst seit Corona ein enormes Risiko darstellt. In vielen Entwicklungsländern ist die pandemiebedingte Lage indes noch gravierender.
Arbeitslosen- und Krankenversicherung kommen hierzulande in Zeiten von Corona und der Lockdowns unterschiedlicher Schweregrade hingegen eine besondere Bedeutung zu. Die von der Bundesagentur für Arbeit getragene Arbeitslosenversicherung dient der Prävention und Überwindung von Arbeitslosigkeit sowie der Sicherung des Lebensunterhalts ihrer erwerbslosen Versicherten. Die Behörde hat in diesen Krisenzeiten viel zu tun und viel Geld auszugeben. Ihr derzeitiger Trumpf liegt wohl auf dem Feld der Vermeidung, und zwar durch besagtes Kurzarbeitergeld, das in diesen Zeiten von einer Vielzahl von Arbeitgebern beantragt wird, die ansonsten ihren Mitarbeitenden kündigen müssten. Dieses arbeitspolitische Instrument wurde letztes Jahr noch einmal gestärkt.
Doch ersetzt es auch nach den jüngsten Reformen in keinem Fall zu 100 Prozent das vorige Nettoeinkommen. Für Angestellte mit Niedriglohn bedeutet der Bezug von Kurzarbeitergeld also trotzdem Einschnitte in die meist stark auf Kante genähte Haushaltskasse, sofern gutwillige und dazu finanziell derzeit überhaupt fähige Arbeitgeber das Kurzarbeitergeld nicht freiwillig aufstocken. Das Gleiche gilt für die angestiegene Zahl der Bezieher von Arbeitslosengeld I, das 60 bzw. 67 Prozent des gemittelten Nettoeinkommens ersetzt. Und das auch nicht für lange. Laut Bundesagentur für Arbeit ist die Zahl der Langzeitarbeitslosen von Februar 2020 bis Februar 2021 um ganze 41,4 Prozent angestiegen. Und wer ausschließlich geringfügig, also im Minijob, beschäftigt ist bzw. war, hat weder Anspruch auf Kurzarbeitergeld noch auf Arbeitslosengeld I. In Zeiten von Corona wird die Versicherungsfreiheit dieser Jobs denen zum Verhängnis, die auf die geringfügigen Arbeitsverhältnisse für ihren Lebensunterhalt angewiesen sind.
Doch nicht nur die vielen neuen Langzeitarbeitslosen, Niedriglohnbeschäftigte in Kurzarbeit, hauptberufliche Minijobber u.a.m. zählen zu den wirtschaftlichen Verlierern der Coronakrise. Auch Selbstständigen, also jenen, die ihre Arbeitskraft nicht am Arbeitsmarkt für eine abhängige Beschäftigung anbieten, geht es gelinde gesagt nicht wirklich besser: Dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zufolge haben durch den Nachfrageausfall in Folge der Krise viele der rund vier Millionen Solo-Selbstständigen sowie Inhaber von kleinsten und kleinen Unternehmen ihre Einkommensgrundlage teilweise oder sogar vollständig verloren. Dass die staatlichen Soforthilfen oft nicht hinreichend waren oder nur mit großer Verzögerung bei den Selbstständigen ankamen, ist inzwischen hinlänglich bekannt.
Vielen Menschen und ihren Familien geht es in diesen Zeiten also wirtschaftlich schlecht bis sehr schlecht. Grund genug neu darüber nachzudenken, wo Arbeitsmarkt, Sozialstaat und Sozialversicherung Reformbedarfe auch über die Krise hinaus aufweisen. Die Rufe etwa nach Abschaffung der versicherungsfreien Minijobs, nach besseren Hilfen für Langzeitarbeitslose sowie nach der Integration von Selbstständigen in die Sozialversicherung erschallen bereits. Sie müssen auch in der bevorstehenden neuen Legislaturperiode gehört sowie politisch umsichtig und abgewogen diskutiert werden. Ein starker, aber vor allem subsidiärer Sozialstaat, der in erster Linie auf Hilfe zur Selbsthilfe setzt und die soziale Inklusion aller in der Gesellschaft anzielt, sollte dabei das übergeordnete sozialethische Leitbild sein. Eine Ethik des Sozialstaats in christlicher Perspektive verweist ferner darauf, dass Subsidiarität und Solidarität, die beiden klassischen Prinzipien katholischer Soziallehre, in der Sozialpolitik stets zusammengedacht werden müssen.
Doch alle sozialstaatliche Unterstützung und Absicherung kostet natürlich Geld, in Coronazeiten sogar sehr viel Geld. Bei allen anstehenden gesellschaftlichen und politischen Debatten über die Stärkung des Sozialstaats und der Sozialversicherungen, insbesondere mit wünschenswerter Rücksicht auf die von der Krise besonders Betroffenen, darf nicht die Binsenweisheit aus dem Blick geraten, dass neue sozialstaatliche Leistungen sowie die Tilgungen der hohen Staatsschulden zunächst einmal erwirtschaftet werden müssen.
Ein in Coronazeiten wieder vernehmbarer Etatismus, diese neue alte Staatsgläubigkeit, die sich heute unter einem manchmal überzogenen Verständnis vom Primat der Politik versteckt, nämlich verkennt, dass die Coronakrise uns lehrt, wie marktbedürftig wir als Gesellschaft und als Einzelne sind. Das hat sich schon zu Beginn der Krise gezeigt, als dank der Marktwirtschaft auch in Zeiten von Hamsterkäufen und einer nie gekannten kollektiven Klopapiersehnsucht die Supermarktregale immer wieder voll waren. Man mag sich nicht ausdenken, wie die Versorgungslage in diesen Zeiten in einer staatsdirigistischen Planwirtschaft ausgehen hätte. Spätestens der coronabedingte Lockdown produktiver Wirtschaftstätigkeit sollte erneut vor Augen geführt haben, wo eigentlich der Ursprung unseres Wohlstands und unseres bis Corona brummenden Arbeitsmarktes liegt.
Der Sozialstaat wäre also ohne jahrelang erfolgreiche Wertschöpfung auf einem freien Markt nicht in diesem Umfang realisierbar. Das verdeutlicht den gemeinwohldienlichen Wert des freien Unternehmertums im ordnungsethischen Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft. Freies aber geordnetes, marktbasiertes Wirtschaften und solidarisch-sozialstaatliche Sicherung gehören nach dem Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft eben untrennbar zusammen. Der marktliche Wettbewerb wird, so darf man begründet annehmen, auch ein wesentlicher Treiber von Innovation für die weitere Krisenbewältigung und die Nachcoronazeit sein. Das hat die Impfstoffentwicklung durch verschiedene, miteinander im Wettbewerb stehende Pharmaunternehmen zuletzt wünschenswert schnell und effektiv bewiesen, insbesondere in Kontrast zum derzeit insgesamt desolaten Krisenmanagement der Politik. Dabei muss jedoch ebenso die Bewältigung des Klimawandels als ein noch viel gefährlicherer Krisenherd auf dem Radar bleiben. Für die nächste Legislaturperiode und für die Zeit nach Corona bleibt also viel zu tun.
Der Verfasser
Mag. theol. Lars Schäfers ist Wissenschaftlicher Referent der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ) in Mönchengladbach sowie Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Christliche Gesellschaftslehre der Katholisch-Theologischen Fakultät der Bonner Universität und Generalsekretär von Ordo socialis – Wissenschaftliche Vereinigung zur Förderung der Christlichen Gesellschaftslehre.