Arnd Küppers | 10. Juli 2020

Schutzmasken-Pflicht abschaffen?

Vor kurzem machte der Wirtschaftsminister von Mecklenburg-Vorpommern, Harry Glawe, den Vorschlag, die Pflicht zum Tragen eines Mundschutzes beim Einkaufen wieder abzuschaffen. Er ging damit auf Forderungen aus dem Einzelhandel ein, dem die Pandemie zu schaffen macht und der auf mehr Shopping-Lust der Kundschaft hofft, wenn erst einmal die lästige Mund-Nase-Bedeckung wieder abgelegt werden darf.

Glawe erntete für seinen Vorschlag viel Gegenwind – sowohl aus der Wissenschaft, von Virologen und Hygienikern, als auch aus der Politik. Selbst die Bundeskanzlerin rüffelte ihren Parteifreund aus der mecklenburgischen Heimat. Masken seien ein wichtiges und bis auf weiteres unverzichtbares Mittel, um die Pandemie weiterhin einzudämmen und in Schach zu halten.  Kurz darauf kam es zur Videokonferenz zwischen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn und den 16 Gesundheitsministern der Länder, die sich nach kurzer Debatte darauf einigten, die Maskenpflicht beizubehalten. Der Beschluss war einstimmig. Auch der Gesundheitsminister von Mecklenburg-Vorpommern stimmte zu. Sein Name: Harry Glawe.

Die Episode zeigt, wie es in der Corona-Pandemie immer wieder zum Konflikt zwischen Gesundheitsschutz und Wirtschaftsinteressen kommt. Zumindest scheinbar. Scheinbar in diesem konkreten Fall deshalb, weil es überhaupt fraglich erscheint, ob die Einkaufslaune der Menschen tatsächlich vor allem durch die Schutzmasken gehemmt wird. Richtig ist, dass sich die Innenstädte geleert haben und die Verkaufszahlen des stationären Handels eingebrochen sind um den Zeitpunkt der Einführung der Maskenpflicht herum. Aber zeitliche Koinzidenz bedeutet nicht zwingend einen kausalen Zusammenhang. Das ist gar keine Frage der Ethik, sondern eine der Logik. Denn die Schutzmasken wurden eingeführt, als auch in Deutschland die Infektionszahlen exponentiell anstiegen und die reale Gefahr der Pandemie in den Köpfen der Menschen bewusst wurde. War es nicht vielleicht doch eher die Angst vor Ansteckung mit dem Virus, die den Menschen wochenlang die Lust am Einkaufen genommen hat? Oder war es vielleicht die Tatsache, dass als weitere Maßnahme Restaurants und Cafés auf dem Höhepunkt der ersten Infektionswelle vorübergehend schließen mussten? Gerade Shoppingtouren durch die Innenstädte werden ja oft mit einem Essen oder Kaffeetrinken mit Familie oder Freunden verbunden.

Es mag sein, dass manche Menschen die Mund-Nase-Bedeckung derart lästig finden, dass sie lieber „oben ohne“ auf dem heimischen Sofa sitzen bleiben, als vermummt durch Geschäfte zu flanieren. Es mag aber auch sein, dass andere durchaus froh sind, dass heutzutage alle verpflichtet sind, beim Einkaufen Maske zu tragen, und dass diese Menschen den Geschäften wieder vermehrt fernblieben, würden ihnen andere Kunden wieder unbedeckt schniefend und hustend auf die Pelle rücken.

Was nun kann Ethik zu der Debatte beitragen? Bei aller Unsicherheit, was kausale Zusammenhänge angeht (siehe oben), so sind sich doch die Expertinnen und Experten nach den Erfahrungen der letzten Wochen und Monate weitgehend einig, dass sich Alltagsmasken neben dem Abstandsgebot als ein ziemlich wirksames Mittel bewährt haben, um die Ansteckungsraten mit dem Coronavirus gering zu halten. Das sieht man schon daran, dass nach Einführung dieser beiden Maßnahmen nicht nur die COVID-19-Infektionen deutlich zurückgegangen sind, sondern dass auch die saisonale Grippe und mit ihr sämtliche Erkältungskrankheiten weitgehend verschwunden sind.

Moderne Ethik schätzt und schützt die Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht des Menschen. Freiheitsbeschränkungen sind deshalb immer rechtfertigungsbedürftig. Und zweifellos handelt es sich bei der Verpflichtung, in bestimmten Lebenssituationen einen Mundschutz zu tragen, um einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht. Begründet wird dieser Eingriff damit, dass in der Pandemie Gesundheit und Leben geschützt werden müssen, und zwar mit Blick auf jede und jeden Einzelnen, insbesondere die Angehörigen von besonders gefährdeten Risikogruppen. Aber auch mit Blick auf die Gesamtgesellschaft und deren Funktionalität, insbesondere die des Gesundheitssystems. Wir haben in anderen Ländern gesehen, wie schnell aufgrund des exponentiellen Infektionsgeschehens die Pandemie aus dem Ruder laufen kann und Krankenhäuser keine adäquate Versorgung von Erkrankten mehr gewährleisten können.

Zugleich gilt nicht: Der Zweck heiligt jedes Mittel. Vielmehr gilt in der Ethik der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Das bedeutet: Sind Freiheitsbeschränkungen notwendig, sollten solche Maßnahmen zur Anwendung kommen, die den relativ mildesten Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht bedeuten. Abstandsgebot und Maskenpflicht sind relativ milde Mittel, um zu dem gewünschten Erfolg – Eindämmung des Infektionsgeschehens – zu kommen, wenn man sie mit anderen Maßnahmen vergleicht, die in der Pandemie auch schon ergriffen worden sind: Ausgangssperren, Quarantänen, Lockdown etc.

Wer die Pflicht zum Tragen von Schutzmasken in Deutschland jetzt abschaffen möchte, sollte in andere Länder schauen. Die Pandemie ist noch nicht vorbei, sondern breitet sich weltweit gesehen immer weiter aus. Deutschland hat bei der Eindämmung hierzulande viel erreicht. In anderen Ländern sehen wir aber, wie schnell das Erreichte auch wieder verspielt werden kann, wenn man meint, komplett zum Alltag aus Vor-Corona-Zeiten zurückkehren zu können. Schutzmasken sind ein kleiner Preis, den wir zahlen müssen, um weiterhin diese Ausnahmesituation zu bestehen. Der Preis einer zweiten Welle wäre weitaus höher, sowohl gesundheitlich als auch sozial und wirtschaftlich.

Der Verfasser

Dr. Arnd Küppers ist Stellvertretender Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ) in Mönchengladbach.