Marco Bonacker | 14. Dezember 2020
Pflege in Zeiten der Corona-Pandemie
Ein aktueller Beitrag zum Diskurs
Seit März 2020 ist die Weltgesellschaft nicht mehr dieselbe. Die Corona-Pandemie bestimmt seither unsere Lebenswirklichkeit, verändert unseren Alltag und schränkt bisher selbstverständliche Freiheiten ein. Das neuartige Corona-virus SARS-CoV-2 bestimmt das Leben weltweit, seitdem es sich von China ausgehend rasend schnell und mit teilweise exponenziellem Wachstum verbreitet hat. Ein schnelles Ende der Krise ist vorerst nicht in Sicht. Bis auf Weiteres müssen wir lernen, mit der Gefahr einer sich ausweitenden Pandemie zu leben. Die notwendigen Maßnahmen unter Abwägung der vielfältigen Interessen der Gesamtgesellschaft aufrechtzuerhalten und sie plausibel zu machen, wird eine der entscheidenden Herausforderungen der nächsten Zeit sein. Große Hoffnungen zur Lösung der Krise werden auf die schnelle Entwicklung und Verteilung von Corona-Impfstoffen gesetzt. Die erfolgreiche Entwicklung der Impfstoffe ist rasant vorangetrieben worden, die Verteilung wirft aktuell allerdings noch viele Fragen auf. Mit Blick auf die anstehenden Massenimpfungen muss allerdings auch betont werden, dass diese zunächst nur ein Baustein im zukünftigen Umgang mit der Corona-Pandemie darstellen. Die Corona-Krise bleibt eine gesamtgesellschaftliche, ja globale Herausforderung.
Gerade Pflegeeinrichtungen standen und stehen im Fokus der Überlegungen im Kontext der Pandemie: Wie kann man gerade die Risikogruppen, Alte und Kranke schützen? Besonders die Besuchsverbote und die lange Zeit der Isolierung sorgten dabei auch für Kritik. Waren und sind die Schutzmaßnahmen verhältnismäßig? Darf Freiheit so einschneidend eingeschränkt werden? Insbesondere hat sich der Blick auf die Vermeidung freiheitsentziehender Maßnahmen (FEM) noch einmal neu geschärft. Vor allem die stationäre Langzeitpflege hatte sich der Reduktion der freiheitsentziehenden Maßnahmen gewidmet, politische und juristische Rahmenbedingungen waren dahingehend ausgestaltet worden. Der politische, pflegewissenschaftliche, ethische und medizinische Diskurs hat erreicht, dass Freiheitsrechte eines jeden Menschen auch in der Pflegesituation nicht enden, sondern gerade vulnerablen Personen zukommt. In den letzten Jahren ging die Anzahl der genehmigten freiheitsentziehenden Maßnahmen drastisch zurück. Gerade die Rechte von zu Pflegenden stehen daher weiter im Fokus des interdisziplinären Dialogs. Die Corona-Pandemie hat allerdings die Sollbruchstellen des Diskurses zwischen Freiheit und Sicherheit wieder neu deutlich gemacht. Auch die Perspektive auf die Gesundheitsfachberufe, die Pflegerinnen und Pfleger in der Praxis fand sich vielfach in der öffentlichen Debatte wieder. Bilder gingen um die Welt, in denen sie mit Applaus auf dem Nachhauseweg bedacht wurden, in Spanien, in Italien oder auch in Deutschland. Menschen in der Pflege haben in jedem Fall außerordentliches geleistet und waren gerade auf dem Höhepunkt der Krise mit vielfältigen Unsicherheiten konfrontiert und auch besonderen Risiken – auch durch fehlende persönliche Schutzausrüstung – ausgesetzt. Ihre gesellschaftliche Anerkennung ist fraglos gestiegen, die Systemrelevanz wurde allerorten unterstrichen. Doch Applaus und Anerkennung lösen nicht die bereits bestehenden und durch die Krise noch verschärften Nöte in der Pflege vom Personalmangel bis zur geringen Bezahlung. Hier ist insbesondere die Politik gefordert, den lobenden Worten auch Taten folgen zu las-sen.
Trotz aller offenen Fragen im Kontext der Pandemie gilt: Die Phase der ersten Panik, des Schocks und der ad-hoc-Entscheidungen ist vorbei. Wir stehen zwar noch mitten in der Krise, die gerade in eine neue kritische Phase übergeht, und doch können bereits erste Erkenntnisse gebündelt werden, kann ein erstes (Zwischen-)Fazit über den Umgang, die psychosozialen Effekte und die zu erwartenden Langzeitfolgen der Corona-Pandemie gezogen werden: Wo stehen wir heute? Wie robust waren die Freiheitsideale im Kontext der Krise? Welche Erkenntnisse in Pflegepraxis und Wissenschaft haben wir gewonnen? Was muss in Zukunft stärker beachtet werden und welche Lehren ziehen wir aus den Entscheidungen in der akuten Krisensituation und dem Umgang mit der Corona-Pandemie in der Pflege? Das ist der Ansatzpunkt des Buches „Pflege in Zeiten der Pandemie – Wie sich Pflege durch Corona verändert hat“. Der Sammelband möchte auf diese Fragen erste Antworten geben. Dafür ist es gelungen Experten aus Philosophie und Ethik, aus Rechts- und Pflegewissenschaften sowie aus der Praxis der Gesundheitsfachberufe zu gewinnen, um eine möglichst vielstimmige und differenzierte Perspektive auf die Pflegesituation während der ersten Phase der Pandemie zu eröffnen.
Die Herausgeber und Autoren, darunter sind u.a. Holger Zaborowski, Peter Schallenberg, Hürrem Tezcan-Güntekin, Helen Kohlen, Bernhard Langner oder Martina Hasseler, sind sich darüber bewusst, dass es ein Wagnis ist, bereits jetzt erste Positionen und Erkenntnisse zu veröffentlichen. Die Corona-Pandemie ist eine hochdynamische Realität, die fast täglich neue Erkenntnisse und sich verändernde Strategien nach sich zieht. Ein Wagnis allerdings, dass man eingehen muss, wenn man den weiteren Umgang mit der Pandemie in der Pflege mitgestalten will. Gerade weil die Corona-Krise noch nicht der Vergangenheit angehört, versteht sich der hier vorliegende Band als Beitrag zu einem laufenden Diskurs, den es gesamtgesellschaftlich zu führen gilt. Zugleich erfüllt die Publikation die Aufgabe einer Dokumentation, die nachhaltig vor Augen führen kann, welche Fragen und Herausforderungen in der Pflege während der Pandemie bestimmend waren.