Stefan Gaßmann | 28. Oktober 2020
Nur Eigenverantwortung schafft Sicherheit
Subsidiär durch die Corona-Krise
Am 20. Oktober sagte Berlins regierender Bürgermeister Michael Müller in einer Pressekonferenz: „Meine Sorge ist, dass sich einige auch noch das letzte Stückchen Egoismus einklagen werden. Aber es ist kein Erfolg, sich ein oder zwei Stunden mehr Freiheit zu erstreiten, […] weil es eben doch wieder dazu verleitet, in größeren Runden zusammen zu kommen […] und wieder neue Infektionsketten in Gang zu setzen und andere zu gefährden.“
Hintergrund waren die erfolgreichen Klagen gegen Corona-Auflagen der Stadt Berlin, wie die Sperrstunden für einzelne Gaststätten. Der Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki konterte am 25. Oktober in einem Gastbeitrag im Cicero: „Aus diesen Worten liest sich eine dreiste Schuldumkehr. Geht es nach Michael Müller, ist derjenige, der sein Recht vor einem ordentlichen Gericht einklagt, ein gefährlicher Egoist. […] [N]icht derjenige, der in einem Rechtsstaat vor Gericht Recht bekommt, hat etwas Falsches gemacht, sondern diejenigen, die ihm dieses Recht nehmen wollten. Es wäre für das Ansehen unserer Rechtsordnung sicher hilfreich, würden manche Regierungschefs nicht ihre eigenen moralischen Kategorien über das Gesetz stellen. Denn ein moralisch begründetes Recht über dem tatsächlichen Recht gibt es nicht.“
Worum geht es also? Im Kern um die Verantwortung des Einzelnen, um die sich in der Corona-Krise ohnehin alles dreht: Denn mittlerweile ist hinlänglich bekannt, dass sich das Halten von Abständen, das Befolgen von Hygienevorschriften, das Tragen von Masken und die Reduktion von Kontakten, cum grano salis die einzig wirklich wirkungsvollen Maßnahmen sind, um die Infektionszahlen gering und damit die Corona-Lage beherrschbar zu halten. Gleichzeitig sind genau diese Dinge gar nicht flächendeckend kontrollierbar: Selbst, wenn es die Behörden wollten und dürften, sie könnten es schlichtweg gar nicht leisten. So kommt es darauf an, dass sich jeder Einzelne verantwortungsvoll und vernünftig verhält. Insofern könnte man sagen: Michael Müller hat recht und Wolfgang Kubicki Unrecht! Es gibt eine moralische Verpflichtung, die den Einzelnen auch jenseits rechtlicher Vorgaben betrifft, auch wenn der Staat – Gott sei Dank! – keine Handhabe hat, moralische Verpflichtungen durchzusetzen.
Umgekehrt hat aber auch Wolfgang Kubicki recht: Der gegenwärtig anhaltende Krisenmodus weckt Phantasien des, selbstverständlich immer wohlmeinenden, Durchregierens auf Seiten der politischen Verantwortungsträger – wie insbesondere das Bundesgesundheitsministerium immer wieder durchblicken lässt. Und selbst in der ethischen Reflexion politischen Handelns in der Krise gibt es schon Überlegungen, ob die allgemeine Verpflichtung von Staaten zum Schutz von Menschenrechten nicht auch eine humanitäre Verpflichtung von Staaten umfasse, in anderen Staaten zu intervenieren, die – aus welchen Gründen auch immer – ihr jeweiliges Staatsvolk nicht schützen wollen. Umgekehrt rufen, gerade auch in Deutschland viele Bürger geradezu nach einem starken, durchgreifenden Staat, getreu der Devise: Bitte gebt uns doch endlich Regeln und setzt diese durch! Das ist paradox. Die Regeln sind nämlich klar und einfach: A-H-A, Abstand – Hygiene – Alltagsmasken. Was die Bürger also eigentlich wollen, ist sich ihrer jeweiligen, individuellen Verantwortung zu begeben, wenn sie nach staatlichen Interventionen rufen, um sich in (vermeintlicher!) Sicherheit wiegen zu können: Der große Bruder passt schon auf, da muss ich selber nicht drauf achten. Die Corona-Krise bietet so die Gefahr, dass einerseits ein schleichend sich entwickelnder Macht- und andererseits ein schon seit langem um sich greifender Sicherheitswahn sich vermählen. Mit möglicherweise gefährlichen politischen Entwicklungen, zumal nicht absehbar ist, dass wir in Bälde aus dem Krisenmodus werden herauskommen werden. Und das paradoxerweise obwohl – wie gesagt – politische Machbarkeit in dieser Krise an ihre Grenzen stößt.
Vermutlich verhält es sich so, dass Corona hier ein Problem offenlegt, das schon viel länger besteht: Dem Staat wird seit Jahren immer mehr die Aufgabe zugewiesen „Rückversicherer für alle gesellschaftlichen Risiken“ zu sein, wie Friedrich Merz, nicht nur im Blick auf die Corona-Krise, in der F.A.Z. vom 26. Oktober schrieb. Die Antwort auf diese Entwicklung, die Merz vorschwebt, ist dabei eine Ausrichtung an einem subsidiären Verständnis von Staat und Gesellschaft. Das bedeutet, „das Leben in eigener Verantwortung und Solidarität vor allem in der persönlichen Hinwendung von Mensch zu Mensch [zu führen], der Aufbau einer Gesellschaft von unten nach oben, mit einem klaren Vorrang der kleineren Einheiten. Subsidiarität ist nicht nur ein Organisationsprinzip. Sie ist auch Ausdruck einer Weltanschauung, die den einzelnen Menschen in seiner Würde und seinen Bedürfnissen in den Mittelpunkt allen politischen Bemühens stellt und nicht das Kollektiv, dem sich jeder Einzelne unterzuordnen hat.“ So hätte es auch aus den Ausführungen zum Subsidiaritätsprinzip im Kompendium der katholischen Soziallehre stehen können!
In einer subsidiären „Weltanschauung“ ist auch klar: Im Letzten schafft nur Eigenverantwortung Sicherheit! Es kommt darauf an, dass sich jede Gliederung von Staat und Gesellschaft beim Einzelnen angefangen über die Familien, Vereine, Kommunen, Bundesländer, Nationalstaaten bis hin zur EU sich darauf besinnen, wofür sie Verantwortung übernehmen können und wofür nicht, weil das kleinere Einheiten auch ohne die größeren können. Und nach dieser Besinnung dann auch entsprechend ihrer Verantwortung beherzt handeln, nicht die Verantwortung an die nächsthöhere Stelle schieben. Nur wenn der Einzelne dazu befähigt und dabei unterstützt wird – subsidium bedeutet Unterstützung –, das, was er leisten kann zu erkennen und auch zu tun, können Herausforderungen aller Art gemeistert werden. In der Corona-Krise gilt dies mehr denn je! Hier kommt alles auf den Einzelnen und die Art, wie er sich anderen Menschen gegenüber verhält an. Deswegen sind Verschwörungstheoretiker und Corona-Leugner auch keine Anwälte der Freiheit. Wer in der Corona-Krise Freiheit fordert, der muss damit in einem subsidiären Sinne Verantwortung meinen und das heißt dann auch zunächst ganz einfach und konkret, sich seine Maske aufzuziehen.
Wichtiger aber noch wird sein, dies nicht nach der Corona-Krise wieder zu vergessen: Der Staat kann eben nicht „Rückversicherer aller Lebensrisiken“ sein. Es kommt darauf an, Bürger in der Wahrnehmung ihrer Eigenverantwortlichkeit zu unterstützen und den ordnungspolitischen Rahmen so zu stecken, dass Bürger auch selbst Initiative ergreifen können. Wenn sich diese Einsicht durch die Krise hindurch trägt, dann wäre es so – wie es ja ein Bonmot zu allen Krisenzeiten ist – , dass Deutschland (und auch jedes andere Land) wirklich stärker aus der Krise herausgeht, als es in sie hineingegangen ist.