Arnd Küppers | 02. Januar 2021
Mangel an Corona-Impfstoff in Deutschland und Europa
EU-Kommission hat zu spät und zu wenig bestellt
Der Ansatz, für die Mitgliedsländer der Europäischen Union gemeinsam Impfstoffe gegen COVID-19 zu bestellen, war richtig, und zwar nicht nur unter dem ethischen Gesichtspunkt der Solidarität. Denn die Corona-Pandemie kann nur gemeinsam beendet werden und nicht mit nationalen Alleingängen. Das gilt für Europa und letztlich weltweit. Die aktuellen Befürchtungen angesichts einer erstmals in Großbritannien nachgewiesenen Mutation des Virus sollten uns allen diesbezüglich eine Lehre sein. Es wird keinem Land nutzen, wenn die eigene Bevölkerung bereits durchgeimpft ist, sich das Virus aber in Nachbarländern oder auch in entlegeneren Regionen weiterhin ausbreiten und dann auch so verändern kann, dass Impfstoffe wieder wirkungslos werden. Europäische und internationale Solidarität in der gegenwärtigen Impfkampagne sind deswegen sowohl moralisch geboten als auch im wohlverstandenen Eigeninteresse.
Nicht besonders klug war es allerdings, dass die Europäische Kommission offensichtlich viel zu spät und viel zu wenig Impfstoff bestellt hat. Bereits im Sommer waren die Erfolgsaussichten von Biontech bei der Arbeit an einem Impfstoff sehr groß. Die USA haben deshalb im Juli 600 Millionen Impfdosen bei dem Mainzer Unternehmen und dessen US-Partner Pfizer vorbestellt. Auch andere Länder – Israel, Großbritannien und Kanada etwa – haben sich frühzeitig eingedeckt. Die Europäische Union dagegen hat erst im November einen Vertrag mit Biontech abgeschlossen und 200 Millionen Impfdosen mit der Option auf weitere 100 Millionen vorbestellt – obwohl das Unternehmen 500 Millionen Dosen angeboten hatte. Ähnlich ist es mit dem Impfstoff von Moderna gelaufen, der in Kürze ebenfalls die europäische Zulassung erhält: das amerikanische Pharmaunternehmen hatte den Europäern 300 Millionen Impfdosen angeboten, die Europäische Kommission bestellte aber lediglich 80 Millionen mit einer Option auf weitere 80 Millionen. Das heißt: die EU-Kommission unter ihrer Präsidentin Ursula von der Leyen hat 340 Millionen Dosen jener beiden Impfstoffe ausgeschlagen, die absehbar die einzigen bleiben, die kurzfristig in Europa eingesetzt werden dürfen, weil sie nachweisbar sicher und hochwirksam sind.
Die Folge ist, dass Deutschland und Europa derzeit und absehbar auch in den kommenden Monaten über viel zu wenig Impfstoff verfügen. Während Israel vermutlich bereits im März seine Bevölkerung durchgeimpft haben wird und die USA gute Aussichten haben, dieses Ziel bis Ende Juni zu erreichen, redet der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn davon, dass voraussichtlich bis Ende des Jahres jedem Impfwilligen in Deutschland ein „Impfangebot“ gemacht werden könne. Sollten „noch ein oder zwei andere Impfstoffe“ zugelassen werden, könnte das auch schon früher geschehen – allein: ob und wann das der Fall sein wird, das weiß man nicht.
Die Mainzer Neurologin Prof. Dr. Frauke Zipp, Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, hat dazu gegenüber der Zeitung Die Welt gesagt: „Ich halte die derzeitige Situation für grobes Versagen der Verantwortlichen.“ Und weiter: „Vor Kurzem gab es noch offizielle Totengedenken, jetzt zählt offenbar nicht mehr jeder Tag, an dem Menschenleben gerettet werden könnten. Jetzt wird Geduld eingefordert.“ Das sind harte Worte, aber sie sind offensichtlich sehr berechtigt. Mit jedem Tag, den die Pandemie weiter wütet, sterben tausende Menschen in Europa. Die USA möchten in den kommenden Monaten täglich eine Million Menschen impfen. Das wäre logistisch auch in Deutschland kein Problem – wenn die EU-Kommission und die Bundesregierung denn nur genauso vorausschauend Impfstoff vorbestellt hätten wie andere Regierungen – selbst die Administration des erratischen US-Präsidenten Donald Trump.
Auch der Gründer und Vorstandsvorsitzende von Biontech, Ugur Sahin, hat sich im Gespräch mit dem Spiegel sehr irritiert über die mangelnde Umsicht und Vorsorge der Europäischen Kommission gezeigt: „Der Prozess in Europa lief sicherlich nicht so schnell und geradlinig ab wie mit anderen Ländern“, so Sahin. „Es gab die Annahme, dass noch viele andere Firmen mit Impfstoffen kommen. Offenbar herrschte der Eindruck: Wir kriegen genug, es wird alles nicht so schlimm, und wir haben das unter Kontrolle. Mich hat das gewundert.“
Zu Recht fragt die auf Neuroimmunologie spezialisierte Professorin Zipp: „Warum hat man im Sommer nicht viel mehr Impfstoff auf Risiko bestellt?“ Wollte die EU-Kommission das Geld sparen? Angesichts des menschlichen Leids und der volkswirtschaftlichen Kosten der Pandemie ist das absolut unverantwortlich. Die Ausgaben für die nun schmerzlich vermissten Impfdosen wären Peanuts gewesen im Vergleich zu den Kosten, die uns jeder weitere Tag der Pandemie und des Lockdowns kostet – und der vermeidbar wäre, wenn die Impfstoffe jetzt zur Verfügung stünden. Hätte man mehr bestellt, als man selbst brauchen würde: umso besser. Die überzähligen Dosen könnten an ärmere Länder weitergegeben werden. Denn noch einmal: ohne weltweite Solidarität wird diese Pandemie nicht zu überwinden sein.
Mitte Dezember, als das Kind schon in den Brunnen gefallen war, hat das Bundesgesundheitsministerium dann endlich gehandelt und noch einmal hektisch 30 Millionen Impfdosen bei Bionetch nachgeordert. Allerdings sind die Produktionskapazitäten durch die Vorbestellungen anderer Länder zwischenzeitlich weitgehend ausgeschöpft. Es bleibt deshalb dabei: Wenn sich nichts Entscheidendes ändert, wird es vor Ende 2021 nicht genügend Impfstoff für Deutschland und Europa geben. So bleibt uns nur zu hoffen, dass die derzeitigen Bemühungen von Biontech erfolgreich sein werden, neue Produktionskapazitäten in Deutschland und Europa zu schaffen. Und es bleibt auch zu hoffen, dass sich tatsächlich weitere Impfstoffe als wirksam erweisen werden und diese dann auch in nicht allzu ferner Zukunft zugelassen werden können.