Stefan Gaßmann | 11. November 2021
Lockdown nur für Ungeimpfte?
Eine Frage von Freiheit und Verantwortung
Ein Lockdown nur für Ungeimpfte – oder wie man korrekter sagen müsste: Nicht-Immunisierte? Das ist in Deutschland schon keine Frage mehr, sondern mindestens in den Bundesländern Bayern und Sachsen längst schon Realität. Die dortige Einführung flächendeckender 2G-Regeln für einen Großteil des öffentlichen Lebens ist nämlich genau das: ein Lockdown für Ungeimpfte, die letztlich nur noch in Geschäfte für den täglichen Bedarf und zur Feier von Gottesdiensten eingelassen werden dürfen.
Ist das aber gerecht? Schränkt das nicht einzelne Bürger und Bürgerinnen in ihren Freiheitsrechten massiv ein, andere aber nicht und ist das damit eine ungerechte Diskriminierung? Ich vermute, dass die Mehrheit der bisher Nicht-Immunisierten das so sehen wird. Und ja: Es geht bei dieser Frage um Freiheit und Gleichbehandlung. Aber gerade wegen der Freiheit halte ich auf Grundlage der Prinzipien katholischer Soziallehre einen Lockdown nur für Ungeimpfte für gerecht.
Die Soziallehre verpflichtet jeden Menschen und alle staatlichen oder gesellschaftlichen Gruppen auf die Wahrung der personalen Würde des Einzelnen. Das heißt in den meisten Fällen tatsächlich eine klare Option für größtmögliche individuelle Freiheit und Eigenverantwortung. Es hat aber gute Gründe, warum in der Soziallehre und der auf ihr aufbauenden Sozialethik von Personalität und nicht Individualität gesprochen wird. Personalität meint immer, dass der Mensch ganz wesentlich auf Beziehungen angewiesen und erst durch diese wirklich zu sich findet und er selbst werden kann. Einfacher gesagt: Der freie Mensch hat immer eine Verantwortung gegenüber anderen Menschen als Einzelne und gegenüber Gemeinschaften. Freiheit meint damit im Sinne der Soziallehre nicht nur ein negatives Abwehrrecht gegenüber Eingriffen in die eigene Freiheit. Personal ist die Freiheit immer auch eine positive Verpflichtung gegenüber seinen Mitmenschen. Beides lässt sich im christlichen Menschenbild, das sich in der Soziallehre artikuliert, nicht voneinander trennen.
Vor ungefähr einem Jahr hatte ich auf diesem Blog schon einmal davon gesprochen, dass Freiheit zwar einerseits Verantwortung meint, umgekehrt Verantwortung aber auch Freiheit voraussetzt. Das gilt im Blick auf die Impfung gegen COVID-19 in verschärfter Weise: Wer zur Wahrnehmung von Verantwortung gegenüber seinen Mitmenschen aufruft, wie das u.a. der Staat mit seinen Impfappellen hat, der muss auch darauf setzen, dass Menschen diese Verantwortung frei auf sich nehmen. Freiheit kann dann aber eben auch bedeuten, sich in eigener Verantwortung gegen eine Impfung zu entscheiden. Das erscheint mir und wohl auch einer großen Mehrheit zwar wenig nachvollziehbar, ich kann es aber akzeptieren. Und ich würde auf der Grundlage des personalen Menschenbildes der Soziallehre auch sagen: Man muss es akzeptieren. Wir können anderen Menschen nicht eine bestimmte Lebensdeutung aufdrücken. In dieser Hinsicht zeigt sich wieder, was das Forschungsinstitut für Philosophie Hannover schon im Sommer letzten Jahres im Blick auf „Corona als kultureller Herausforderung“ feststellte: Das Leben in der Corona-Gesellschaft zwingt uns mit Ambivalenzen zu leben und uns in die sogenannte Ambiguitätstoleranz einzuüben, also in die Fähigkeit, Unvereinbares nebeneinander stehen lassen zu können.
Umgekehrt gilt aber gerade wegen des personalen Menschenbildes der Soziallehre – und das ist eine Einübung in Ambiguitätstoleranz für Impfunwillige: Freiheit gibt es nicht ohne Verantwortung. Es ist das gute Recht jedes Menschen, die Impfung zu verweigern. Dann muss er aber auch mit den Konsequenzen leben, die sich aus seiner Verantwortung ergeben. Gibt es eine Verpflichtung, die Auffassung eines Menschen zu akzeptieren, der sich nicht impfen lassen möchte, so hat dieser die Weltdeutung derjenigen genauso zu akzeptieren, die sich von naturwissenschaftlich belastbaren Daten und den Statistiken zur aktuell sich erneut verschärfenden Lage auf den Intensivstationen in ihrer Haltung zur Coronaimpfung bestimmen lassen. Und in dieser Sicht ist ein Mensch, der sich nicht impfen lassen will, eine enorme Belastung für das Gesundheitssystem. Die Daten sprechen schließlich eine eindeutige Sprache: Auch wenn Auffrischimpfungen nötig sind, auch wenn es Impfdurchbrüche gibt – wer geimpft ist, wird mit einer deutlich geringeren Wahrscheinlichkeit schwer krank und je weniger Schwerkranke, desto weniger droht eine Überlastung des Gesundheitssystems. Dass sich die Intensivstationen derzeit wieder füllen, hat wesentlich – wenn auch nicht nur – damit zu tun, dass sich viele Menschen bisher nicht haben impfen lassen. Planbare Operationen werden bereits wieder verschoben. Der Druck trifft alle.
Dabei geht es um eines der Sozialprinzipien der katholischen Soziallehre, das sich aus dem personalen Menschenbild ergibt: um Solidarität. Unser Gesundheitssystem beruht auf diesem Grundsatz und gewährleistet so, dass jeder die bestmögliche Behandlung bekommen kann. Das heißt aber immer auch, dass jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten seinen Beitrag zu dessen Funktionsfähigkeit leisten muss. Das ist außerhalb der Corona-Krise meistens schon durch die Zahlung von Krankenversicherungsbeiträgen getan. In einer Zeit, in der aufgrund einer Pandemie aber die Behandlungskapazitäten so knapp werden, dass Menschen mit anderen Krankheiten fürchten müssen, nicht mehr die bestmögliche Behandlung zu bekommen, geht die Solidaritätspflicht weiter. Es gilt eine Infektion und eine Weitergabe des Virus so gut es eben geht zu vermeiden. Das beste Mittel, das wir dafür haben, ist und bleibt die Impfung. Sie stellt keine Garantie dafür da, den Erreger SARS-CoV-2 nicht weiterzugeben, aber immerhin reduziert sie die Wahrscheinlichkeit dafür. Entscheidender aber ist: Die Wahrscheinlichkeit einer schweren Erkrankung ist mit einer Impfung deutlich geringer.
Wer sich nicht impfen lassen will, der verdient zwar Toleranz, aber ist dadurch nicht von seinen Solidarpflichten entbunden. Die einzige Alternative zur Impfung ist aber Kontaktreduzierung. Wer sich also in der angespannten Lage nicht impfen lassen will, sollte sich dann verantwortungsbewusst darauf festlegen, seine Kontakte zu reduzieren.
So weit so gut. Dann müssten Ungeimpfte eigentlich von sich aus in den Lockdown gehen und man müsste sagen: Das wäre ein reifer und verantwortlicher Umgang mit der eigenen Freiheit. Ob die Realität diesem Ideal entspricht, muss leider bezweifelt werden. Ist es aber allein von daher gerechtfertigt, dass der Staat hier regulierend eingreift? Wäre das nicht eine versteckte Form von Paternalismus, die eben doch keinen Respekt vor der freien Entscheidung der Impfunwilligen hat und sie mit Zwang zu einer bestimmten Entscheidung nötigen will?
Auch das halte ich aus sozialethischen Gründen für einen ungerechtfertigten Einwand. Aus Sicht katholischer Soziallehre sind nicht nur Einzelne, sondern sind alle Gliederungen von Staat und Gesellschaft dazu verpflichtet, die personale Würde aller Menschen zu schützen. Das nennt sich dann Orientierung am Gemeinwohl. Deswegen gibt es gerade keine allgemeine Impfpflicht und sollte es auch keine geben. Gleichzeitig muss der Staat aber auch die Freiheit und damit vor allen Dingen das Leben, ohne das es auch keine Freiheit gibt, der anderen schützen und eine Kontaktreduzierung derjenigen im Rahmen seiner Möglichkeiten sicherstellen, die sich nicht impfen lassen wollen. Ein Lockdown nur für Ungeimpfte ist kein Paternalismus, sondern Erfüllung der Staatspflicht im Dienst am Gemeinwohl.
Was sind daraus nun für Schlüsse über die Tatsache hinaus zu ziehen, dass es um der Freiheit willen zulässig ist, mit flächendeckenden 2G-Bestimmungen einen Lockdown für Ungeimpfte herbeizuführen? Zunächst: Eine Impflicht erscheint als weitergehende Maßnahme nicht zu rechtfertigen. Und gleichzeitig: Geimpfte sind aus Solidarität genauso verpflichtet, sich weiterhin vorsichtig zu verhalten. Weder ist die Pandemie vorbei, noch ist die Impfung eine Garantie dafür, nicht krank zu werden oder das Virus weiterzugeben. Und ein Drittes: Es gilt sich in besagte Ambiguitätstoleranz einzuüben. Der Präsident des Ärztebundes, Ulrich Montgomery, sprach von einer „Tyrannei der Ungeimpften“. Das erscheint vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ambivalent: Es lässt klar den Respekt vor der freien Entscheidung der Impfunwilligen vermissen. Gleichzeitig steckt aber auch eine treffende sachliche Feststellung darin: Weil viele nicht geimpft sind, muss sich die ganze Gesellschaft auf eine neue gefährliche Coronawelle einstellen. Die probateste Auflösung dieses Dilemmas ist ein Lockdown für Ungeimpfte in Form einer flächendeckenden Einführung von 2G-Standards. Aber das muss nicht dazu führen, dass wir Ungeimpfte immer nur als Spinner, Aussätzige oder Tyrannen behandeln sollten. Corona bleibt auch in dieser Hinsicht eine kulturelle Herausforderung.