Marco Bonacker | 08. Januar 2021
Kirche im Lockdown
Hat die Kirche die Menschen in der Pflege allein gelassen?
Die Corona-Krise geht in eine neue Phase über. Die Impfungen, die gerade vor allem Hochaltrigen auch in Pflegeeinrichtungen verabreicht werden, nähren die Hoffnung auf eine baldige Normalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, nach sehr unterschiedlichen Einschränkungen seit März 2020. Schon jetzt kann man auf die ersten Phasen der Corona-Krise und den ersten Lockdown mit etwas Abstand zurückblicken. Dabei steht nicht selten Kritik an erster Stelle, am Staat, aber auch an kirchlichen Äußerungen und ihrer pastoralen Praxis.
In einem aktuellen Interview bündelt Heribert Prantl die Kritik gerade auch mit Blick auf die Pflege, wenn er sagt: „Aber es hat wirklich lange gedauert, ein halbes Jahr, bis die Kirche wieder lebendig wurde in dieser Krise. Und das hat mir schon weh getan. Ich klage ja nicht für mich. Ich klage für die Menschen in den Pflegeheimen, in den Altersheimen, die wirklich brutal allein gelassen wurden. Und dafür haben sich ja auch jemand wie Herr Laschet und Herr Spahn mittlerweile entschuldigt. Und wahrscheinlich müssten sich auch die Bischöfe und die kirchlichen Funktionsträger dafür entschuldigen, dass sie so leise waren. Man muss ja sehen: Ein Großteil oder ein großer Teil der Alters- und Pflegeheime sind von Kirchen getragen, von kirchlichen Wohlfahrtsverbänden. Deswegen hätte ich mir dort liebende Widerständigkeit erwartet.“[1] Wurden die Menschen von der Kirche und ihren Funktionsträgern, zumal in den von der Kirche betriebenen Pflegeheimen, alleine gelassen, wie Prantl beklagt? Das Narrativ klingt zunächst plausibel: Die Kirche hätte mehr tun können, hätten mutiger sein müssen, hätte als stützende Kraft vor allem seelsorglich den Menschen beistehen müssen. Bei aller Unzulänglichkeit kirchlichen Handelns vor dem Hintergrund der hohen Forderungen des Evangeliums, die Kirche auch außerhalb der Pandemie stets begleitet, muss man diesem Narrativ des Versagens der Kirche mehrfach widersprechen. Erstens ist zu widersprechen, dass die Kirche sich flächendeckend zurückgezogen hätte. Das stimmt so nicht und es gibt hunderte und tausende Beispiele von mutigen Initiativen von Gemeinden und pastoralen Mitarbeitern, von einzelnen Christen, von Priestern und Diakonen, die Nächstenliebe und Nähe gezeigt haben.
Die Härten eines Besuchs- bzw. Betretungsverbotes konnte das freilich nicht immer ausgleichen – es blieb immer auch ein Stück Verlust übrig. Auch Prantl verweist zumindest in diesem Punkt auf solche Initiativen: „Aber – und das ist meine Kritik vor allem am Verhalten der Kirchen im ersten Lockdown – der Kirche ist es nicht gelungen, die Menschen zu kräftigen. Sie hat es monatelang gar nicht richtig versucht. Man muss natürlich zugeben: In vielen Gemeinden unternahmen Pfarrer und Ehrenamtliche alles Mögliche und bis dahin für unmöglich Gehaltene, um Kirche nicht ausfallen, sondern anders ausfallen zu lassen als bisher. Und Seelsorger in Krankenhäusern und Altenheimen haben bis zur Erschöpfung gearbeitet. Aber das hat hier zu wenig Strahlkraft nach außen. Die öffentlichen kirchlichen Äußerungen wirkten, wenn auch von Verantwortung und Nächstenliebe tönend, doch kleinmütig und ziemlich angepasst.“[2]
Die Anfrage wäre, ob die öffentliche Strahlkraft wirklich das Entscheidende ist, oder nicht vielmehr die gute Arbeit vor Ort, die man nicht aus dem Blick verlieren darf, um das ganze Bild zu zeichnen. Eine Arbeit im Kleinen, die eben auch stärkt und Trost spendet. Gerade guter Journalismus hätte ja die Aufgabe, genau diese unbeachteten Realitäten in den Fokus zu rücken. Hier muss dann der zweite, vielleicht noch entscheidendere Einwand gegen das Narrativ vom Versagen „der Kirche“ und der Vereinsamung in der Pflege kommen. Der Einwand basiert auf dem Bewusstsein, was Pflege als Praxis und Umsetzung der Nächstenliebe eigentlich ist: Sie ist nicht nur technisches Funktionieren und professionsspezifische Handlungslogik („Satt und sauber…“), sondern selbst immer auch personale Begegnung, Realisierung von leiblichem Dialog und damit wesentlich Beziehungsgeschehen. Gerade in kirchlich getragenen Einrichtungen der Altenhilfe besteht ja die pastorale Realität nicht (nur) im Besuch der Seelsorge, die neben dem Pflegegeschehen operiert.
Vielmehr ist Pflege selbst genuin pastoraler Ort, in dem Nächstenliebe und christliche Praxis gelebt und erfahren werden. Genau deswegen betreibt die Kirche ihre Einrichtungen – nicht (nur) als technisch korrekte Einrichtung, in der physische Pflegeleistungen ausgeführt werden, sondern aus der inneren Überzeugung, dass durch und in der Pflegepraxis neue Beheimatung und lebendige soziale Strukturen entstehen, die wesentlich die Pflege bestimmen. Bernhard Langner, Leiter des Qualitätsmanagements des Malteserkrankenhauses in Berlin und Pflegeexperte, unterstreicht dies in einem aktuellen Buchbeitrag, in dem er anhand von drei qualitativen Interviews die Wahrnehmung von Pflegepraktikern und Bewohnern während der Corona-Pandemie darstellt: „Von Seiten der Politik wurde im Rahmen der Pandemie eine eindeutige Botschaft an die vollstationäre Langzeitpflege gesendet: Dort vereinsamen die Menschen, wenn sie keine Besuche von Angehörigen und Freunden erhalten. […] Die pauschale Aussage […] erscheint […] zumindest fragwürdig. Bei Seniorenheimen handelt es sich nicht um Verwahranstalten, sondern um Orte des gemeinsamen Lebens. Nicht nur der Kontakt zu Angehörigen, Freunden und Mitarbeitern besteht, sondern auch unter den Bewohnerinnen und Bewohnern entstehen zahllose Sozialkontakte unterschiedlichster Intensität und Qualität.“[3] In seinem Fazit macht er schließlich auf eine überraschende und positive Folge der Corona-Krise aufmerksam, die in der Debatte um die Pflege in Zeiten der Pandemie vielfach nicht im Blick ist: „Die Krisensituation der Pandemie hat offenbar bei einigen Pflegekräften dazu geführt, das Selbstverständnis der Pflege wieder um den Bereich der Betreuung und Beschäftigung zu erweitern. Nachdem eine immer stärkere Zergliederung der Pflege in Grund- und Behandlungspflege sowie Beschäftigung über viele Jahre stattgefunden hat, bietet die Pandemie die Chance alle Bereiche einer umfassenden Pflege wieder zu berücksichtigen.“[4]
Gerade während des ersten Lockdown haben sich Pflegende und Bewohner häufig neu gefunden, ein neues Gefühl von Gemeinschaft und Gemeinsamkeit ist entstanden. Obwohl die Corona-Krise für viele Pflegebedürftige sowie für Mitarbeiter in Gesundheitsfachberufen und der Pflege eine hohe Belastung darstellt, obwohl die Besuchsverbote wirklich einschneidende und nicht selten auch tragische Folgen haben, vor allem wenn die Bewohner sich auch untereinander nicht sehen können[5], darf nicht leichthin davon ausgegangen werden, die Menschen in der Langzeitpflege stünden automatisch allein oder vereinsamten. Und ebenso wenig sollte man davon ausgehen, pastorale Praxis käme automatisch völlig zum Erliegen, wenn niemand von außen in die Pflegeeinrichtung kommen kann. Gerade weil Kirche ein wesentlicher Träger von Einrichtungen der Altenpflege ist, die hohen Qualitätsstandards entspricht und in denen eine Vielzahl hochmotivierter und implizit pastoral handelnder Pflegemitarbeiterinnen und -mitarbeiter präsent sind (auch sie sind „Kirche“), muss dem Narrativ des Versagens „der Kirche“ widersprochen werden, sie hätte die Menschen in der Pflege „brutal alleine“ gelassen.
In einer herausfordernden und für alle neuen, kritischen und unsicheren Situation einer globalen Pandemie wurde sicher nicht alles richtig gemacht. Differenzierte Kritik muss auch hier den Finger in die Wunde legen. Eine Pauschalkritik aber, die auf die Ebene der Praxis in der Pflege im Kontext der verfassten Kirche und ihr pastorales Wirken zielt, wird der Realität nicht gerecht. Vielleicht ist es gerade diese Diskussion, die uns vor Augen führen sollte, dass wir Einrichtungen der Altenpflege auch als das sehen, was sie im kirchlichen Kontext sind: Pastorale Orte des gemeinsamen Lebens, in denen neue Beheimatung und personale Begegnung realisiert wird.
[1] https://www.katholisch.de/artikel/28235-heribert-prantl-kirche-wirkte-in-pandemie-kleinmuetig-und-angepasst (Zugriff: 07.01.2021)
[2] Ebd.
[3] Bernhard Langner: Beziehungsgestaltung in Zeiten der Pandemie, in: Marco Bonacker / Gunter Geiger: Pflege in Zeiten der Pandemie. Wie sich Pflege durch Corona verändert hat, Opladen – Berlin – Toronto 2021, 137.
[4] Ebd., 145.
[5] Vgl. https://www.bayerisches-aerzteblatt.de/inhalte/details/news/detail/News/pflegeheime-im-lockdown-orte-der-einsamkeit.html (Zugriff: 08.01.2021)