Stefan Gaßmann | 23. Dezember 2020
Ist die Feier von Weihnachtsgottesdiensten ethisch vertretbar?
Die Frage, ob es unbedingt erforderlich und angesichts der gegenwärtigen Infektionszahlen vertretbar sei, an Weihnachten Gottesdienste zu feiern, bekommt gerade Aufwind: Umfragen zeigen, dass sich eine Mehrheit der Deutschen gegen die Durchführung von Präsenzgottesdiensten ausspricht. Nur etwa sechs Prozent geben an, überhaupt einen Gottesdienst besuchen zu wollen. Die meisten evangelischen Landeskirchen in Nordrhein-Westfalen haben ihren Gemeinden die Absage nahegelegt; 90 Prozent der Gemeinden sind dieser Empfehlung nachgekommen. Die katholischen Bistümer halten zwar an der Durchführung von Präsenzgottesdiensten grundsätzlich fest, dennoch haben bereits eine Reihe von Gemeinden im Ruhrgebiet ihre Gottesdienste abgesagt. Die sich bei vielen einstellende Frage lässt sich wahrscheinlich ungefähr so formulieren: Wenn doch alles an Kulturprogramm abgesagt ist, alle Läden dichtgemacht werden, die Krankenhäuser sich den Belastungsgrenzen annähern, warum müssen dann ausgerechnet die Kirchen an Weihnachten Gottesdienste feiern. Da ist doch zu befürchten, dass dort viele Menschen zusammenkommen und damit jede dieser Feiern ein potentielles Superspreading-Event wird. Und was kann man nicht alles an Begründungen dafür finden: Man könne sich Gottesdienste ja per Stream „angucken“. Die Kirchen seien ja offen, da könne man dann ja auch einfach an die Krippe gehen und beten. Wenn alle auf Kulturprogramm verzichten müssten, dann müssten die Kirchen auch ihre „Veranstaltungen“ absagen.
Entgegen meiner Gewohnheit sehe ich mich gezwungen, hier zunächst persönlich Stellung zu beziehen. Ich glaube aber, dass anders dieser Frage nicht beizukommen ist. Denn bei der Frage nach dem Leben der eigenen Religiosität geht es um Urpersönlichses und Intimstes. Ich habe Verständnis dafür, dass jemand, der nicht religiös ist, nicht nachvollziehen kann, dass eine liturgische Feier der physischen Präsenz bedarf. Ich kann verstehen, dass jemand der nicht an Gott glaubt, mit den Augen rollt, wenn ich von der Realpräsenz Gottes in der hl. Kommunion spreche, die nun einmal nur physisch und in Präsenz zu haben ist. Ich habe Verständnis dafür, dass jemand, der nicht religiös ist, nicht verstehen kann, dass man sich als Katholik eine heilige Messe nicht „anguckt“, sondern sie innerlich mitfeiert. So jemand wird nicht verstehen können, dass es für mich zu den entwürdigendsten Erfahrungen meines bisherigen Lebens gehörte, sich bei der „Online-Mitfeier“ der heiligen Messen während des ersten Lockdowns vor einem Bildschirm hinzuknien. „Richtig“ knien kann man nur vor dem in der Messe gegenwärtigen Gott, nicht vor einem Fernseher oder mobilen Endgerät. Da hilft auch alle Tradition der geistlichen Kommunion im eigenen Herzen nichts – etwas das ohnehin einer intensiven Vorbereitung bedarf, die wenn man nicht gerade Priester oder noch besser Ordensfrau oder Ordensmann ist, im Alltag nicht so einfach durchzuhalten ist.
Jeder darf das alles für Hokuspokus halten. Aber niemand kann einem anderen vorschreiben, dass er es für Hokuspokus halten muss. Der Grundpfeiler unseres Zusammenlebens ist die Überzeugung, dass die Würde jedes Menschen, und damit seine Freiheit, unantastbar ist. Und zur Freiheit gehört es auch, Gott in seinem Leben einen zentralen Platz einräumen zu dürfen. Dass das anerkannt und akzeptiert wird, sollte in einer demokratischen Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit sein. Gläubige akzeptieren ja auch den umgekehrten Fall, dass sich Menschen frei gegen ein religiöses Leben entscheiden. Die Entscheidung für ein religiöses Leben bringt es mit sich, dass ein Gottesdienst trotz vieler oberflächlicher Ähnlichkeiten etwas ganz anderes ist als Kulturprogramm. Das wird schon an einer einfachen Überlegung deutlich: Man kann sich eine Oper auch digital anhören. Das ersetzt natürlich nicht das Erlebnis einer Oper im Opernsaal. Dennoch hören wir uns ja auch Aufnahmen von Opern auf CD oder über Spotify an und können die Musik dabei genauso genießen, wie im Opernsaal. Zudem kann der Staat, wenn er die Aufführung einer Oper untersagt, die entstandenen Einnahmeausfälle finanziell kompensieren. Beides lässt sich nicht auf Gottesdienste übertragen: weder kann der Staat die physische Präsenz Gottes kompensieren noch kann eine Online-Übertragung das. Sie ist maximal ein notdürftiger Behelf, um ins innere Beten zu kommen. Nur weil es für jemanden, der nicht religiös ist, genauso aussieht, wie Kulturprogramm, ist es noch lange nicht dasselbe.
Deswegen ist es auch legitim, dass von staatlicher Seite zwischen beidem unterschieden wird: Der Staat kann eben nicht über religiöse Wahrheiten entscheiden. Er bemüht sich lediglich darum, dass jeder die Möglichkeit hat seiner Wahl für oder gegen ein religiöses Leben entsprechend leben zu können. Er steht im Dienst an der Würde aller. Auch der religiösen Menschen in einer mehrheitlich nicht religiös lebenden Gesellschaft.
Dennoch, selbst wenn jemand Anerkennung für das religiöse Leben hat, kann – vollkommen zu Recht – der Einwand erhoben werden, und Gläubige erheben ihn ja auch selbst, dass auch die Feier der Gegenwart Gottes immer noch eine physische Zusammenkunft von Menschen und damit auch ein potentielles Superspreading-Event ist. Jedoch: Das Positionspapier der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, das die wissenschaftliche „Initialzündung“ des jetzigen Lockdowns ist, sieht bewusst von einer Empfehlung eines Verbots von Gottesdiensten ab. Auch Lothar Wieler, der Präsident des Robert-Koch Instituts, sagte in einem Interview am 16. Oktober: „Werden die Hygienekonzepte eingehalten, kann man meines Erachtens relativ sorglos zum Gottesdienst kommen.“ Er selbst gab auch an, weiterhin regelmäßig zur heiligen Messe in seine Gemeinde zu gehen. Wie sollte auch bei Einhaltung der Abstände für die eindeutig markierten Plätze in den Kirchen sorgen, zugleich alle eine Maske tragen und nicht einmal gesungen wird, sich alle diszipliniert beim Betreten und Verlassen verhalten, überhaupt eine Ansteckung möglich sein? Das ändert sich übrigens auch bei hohen Infektionszahlen vor Ort nicht. Es gibt also gute Gründe davon auszugehen, dass bei den gegenwärtigen Regeln das Risiko einer Übertragung des Erregers SARS-CoV-2 während der Feier eines Gottesdienstes ziemlich gering ist. Zudem gilt hier wie überall: Das verantwortliche Befolgen der A-H-A-Regeln ist der beste und letztlich der einzige Schutz vor einer Verbreitung des Erregers. Nur Eigenverantwortung schafft Sicherheit für den Einzelnen und für andere, denen er begegnet.
Nun könnten ja aber Gemeinden und Kirchen in diesem Sinne auch von ihrer Eigenverantwortung Gebrauch machen und Gottesdienste absagen. Wie eingangs bereits beschrieben ist dies ja teils bereits geschehen. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, hatte allerdings am 17. Dezember deutlich gemacht, dass die Entscheidung zum Besuch eines Gottesdienstes nicht von den Bischöfen und Pfarrern dem einzelnen Gläubigen abgenommen werden kann. Jeder und jede Gläubige muss eigenverantwortlich die Entscheidung treffen und sorgfältig abwägen und sich dabei klarmachen: Eine Infektion gefährdet ja nicht nur ihn, sondern auch andere.
Gerade wegen letzteren Gesichtspunkts stellt sich nun also die entscheidende Frage: Ist es eigentlich ethisch vertretbar, sich durch einen Gottesdienstbesuch einem Infektionsrisiko auszusetzen? Darauf gibt es keine einfache und eindeutige Antwort. Es ist jedoch in jedem Fall zu bedenken, dass Gesundheitsschutz kein Selbstzweck ist, sondern eben im Dienst an der Würde aller Menschen steht. Ich habe mich dazu schon an anderer Stelle in Bezug auf die Religionsfreiheit ausführlicher geäußert. Da auch die positive Ausübung der eigenen Religionsfreiheit – und dazu gehört essenziell und existenziell die Feier von Gottesdiensten – Ausdruck dieser Würde ist, und zwar mehr noch als es ein Besuch von Kulturprogramm sein kann, ist es in ethischer Perspektive angebracht, die Entscheidung für den Besuch eines Gottesdienstes zu respektieren und auch positiv zu ermöglichen. Die eigenverantwortliche Entscheidung im Ringen darum, was im Dienst an der Würde des Menschen im je konkreten Fall angemessener ist, kann niemand dem anderen abnehmen.
Vor diesem Hintergrund ist auch die Absage von Gottesdiensten seitens von Gemeinden und Landeskirchen problematisch. Wenn es vor Ort unmöglich wäre Hygienekonzepte umzusetzen, wäre eine Absage sicherlich begründet. Häufiger wurde als Grundlage für die Entscheidung aber die Höhe der regionalen Infektionszahlen genannt. Die allein reicht aber als Rechtfertigungsgrundlage nicht aus, den Gläubigen die Möglichkeit eines Gottesdienstbesuches vorzuenthalten. Es spräche vieles dafür, den Kirchgängern in einer Situation extrem hoher Infektionszahlen zu empfehlen, zu Hause zu bleiben. Entscheiden kann das aber nur der einzelne Gläubige und nicht die Gemeindeleitung, nicht das Bistum, nicht der Staat und nicht der Papst. Jeder und jede Gläubige sollte sich dabei der Schwere und Ernsthaftigkeit der Abwägung, die er treffen muss, bewusst sein.