Arnd Küppers | 03. März 2021
Infektionsrisiko als Bildungsgerechtigkeit
Schulpolitik in Corona-Zeiten
In der Corona-Pandemie entdecken viele Kultus- und Schulminister*innen für sich das Thema der Bildungsgerechtigkeit. Das gilt sogar für jemanden wie die NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer – als FDP-Politikerin Mandatsträgerin einer Partei, die gemeinhin nicht mit Anliegen der sozialen Gerechtigkeit in Verbindung gebracht werden kann. Gebauer verkündete dieser Tage, dass sie trotz wieder steigender Infektionszahlen und eines auf 50 Prozent angewachsenen Anteils der hochansteckenden und aggressiven Virus-Mutationen mehr Klassen zurück in den Präsenzunterricht holen möchte. Von der bisherigen Beschlusslage, dass weitere Schulöffnungen erst bei einem Inzidenzwert von stabil unter 50 möglich sein sollen, möchte die Ministerin nichts mehr wissen.
Übertreffen lässt sich Gebauer in ihrem Eifer allenfalls von ihrer baden-württembergischen Amtskollegin Susanne Eisenmann. Die hatte bereits Ende Dezember verkündet, man müsse ganz „unabhängig von den Inzidenzzahlen“ zum Präsenzunterricht zurückkehren. Dass Eisenmann auf so erfrischend offene Weise verkündete, das Pandemiegeschehen in Zukunft weitgehend ignorieren und politisch ihr Ding durchziehen zu wollen, kannte man im Kontext der deutschen Diskussion zuvor so nicht.
Um nicht missverstanden zu werden: Bildung ist nicht nur ein hohes Gut, sondern ein Menschenrecht. Bildungsgerechtigkeit ist daher in der Tat eine ethische Forderung von herausragend wichtiger Bedeutung. Allerdings hängt Bildungsgerechtigkeit nicht allein vom Präsenzunterricht ab – schon gar nicht in Zeiten einer Pandemie. Vielmehr wird umgekehrt ein Schuh draus: Die Pandemie legt schonungslos die Defizite offen, die es in Deutschland seit vielen Jahren auf dem Feld der Bildungsgerechtigkeit gibt. Und sie legt damit auch die Versäumnisse der überkommenen Schulpolitik offen. Diese hat es jahrelang verschlafen, die Schulen mit einer zeitgemäßen digitalen Infrastruktur auszustatten. Dazu gehören leistungsstarkes Internet, funktionierende digitale Lernplattformen, Fortbildungen für Lehrer*innen und die Ausstattung von Lehrkräften sowie Schüler*innen mit digitalen Endgeräten. Alles das ist nicht passiert, obwohl Bildungsexpertinnen und -experten seit vielen Jahren auf die Defizite in diesen Bereichen hingewiesen haben. In Zeiten der Corona-Pandemie bedeutet das aber auch: Hätten die Schulpolitiker*innen ihre Verantwortung für Bildungsgerechtigkeit in der Vergangenheit ernst- und wahrgenommen und für eine dem digitalen Zeitalter angemessene Schullandschaft gesorgt, dann würde heute, in Zeiten der Corona-Not, der digitale Unterricht schlicht funktionieren und viele Fragen würden sich gar nicht stellen.
Wie wenig sich die Politik in der Vergangenheit um die Bildungschancen insbesondere der sozial Schwächeren gesorgt hat, illustriert eine traurige Episode aus Zeiten der Agenda-Politik und der Hartz-IV-Gesetzgebung. Der Bereich Bildung wurde bei der Berechnung der Leistungen nach dem SGB II ursprünglich nämlich noch nicht einmal eigens erfasst, sondern unter den Punkt „Freizeit, Unterhaltung, Kultur“ subsumiert. Die höheren Bildungsausgaben von Schülerinnen und Schülern wurden dabei nicht berücksichtigt. Als das vor dem Bundesverfassungsgericht angefochten wurde, hat der Vertreter der Bundesregierung in der mündlichen Verhandlung lapidar auf die schwierige Haushaltslage hingewiesen.
Das ist die traurige Wahrheit: Für Schule und Bildung war bislang nie genug Geld da. Und insbesondere die Förderung von benachteiligten Schüler*innen war in der Vergangenheit parteiübergreifend kein besonderes Anliegen der Politik. Das ist nicht nur extrem kurzsichtig, denn Investitionen in die Bildung von Kindern und Jugendlichen sind die beste vorsorgende Sozialpolitik mit langfristig enormer gesellschaftlicher Rendite. Die Versäumnisse in diesem Bereich fallen uns heute, in Zeiten der Pandemie, auf die Füße. Ausbaden müssen das nun Lehrer*innen, Schüler*innen und deren Eltern, die einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt werden.