Arnd Küppers | 16. Januar 2021
Impfungen
Jüngere Risikopatienten und Menschen mit Behinderung sind außen vor
Der Start der Corona-Impfkampagne in Deutschland verläuft holprig. Impfstoffe sind knapp – auch weil Bundesregierung und EU-Kommission später und weniger der hochwirksamen RNA-Impfstoffe von Biontech und Moderna bestellt haben als Länder wie die USA oder Israel.
Die Folge ist, dass auf absehbare Zeit bei den Impfungen priorisiert werden muss. Gesundheitsminister Spahn hat dafür eine Impfverordnung erlassen. Immer wieder betont er, dass es darum gehe, zuerst diejenigen zu schützen, die am verletzlichsten sind. Dazu gehören in einem ersten Schritt die Menschen in Pflegeheimen und die über Achtzigjährigen – Personengruppen, die in der Tat ein extrem hohes Risiko schwerer COVID-19-Erkrankungen haben und völlig zurecht priorisiert werden. Anders als in anderen Ländern werden zu dieser Gruppe in Deutschland aber nicht die jüngeren Menschen gezählt, die aufgrund schwerer Erkrankung oder Behinderung ebenfalls ein sehr hohes Risiko tragen.
Behinderte Menschen leiden im Alltag oft darunter, dass auf ihre besonderen Bedürfnisse keine Rücksicht genommen wird. Politikerinnen und Politiker singen deshalb in Sonntagsreden das Hohelied der Inklusion. Jetzt bei den Corona-Impfungen, wo es buchstäblich um Leben und Tod geht, sind diese Menschen aber wieder außen vor. Sie haben derzeit keine realistische Perspektive, in absehbarer Zeit eine Impfung zu erhalten. Selbst Hochrisikopatienten, bei denen eine Corona-Erkrankung mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit tödlich verlaufen würde, werden derzeit in den Impfzentren abgewiesen, weil sie „zu jung“ sind. Das betrifft zum Beispiel Menschen mit Muskeldystrophie, einer Erbkrankheit, die bei den Betroffenen vom Kindesalter an zu einer allmählichen Degeneration der Muskulatur führt. Das betrifft im fortgeschrittenen Stadium auch die Atemmuskulatur; im späten Verlauf der Krankheit müssen die Patientinnen und Patienten künstlich beatmet werden. Trotzdem fallen diese Menschen durch alle Raster der Impfverordnung. Sie werden in der Prioritätenliste lediglich in der dritten und damit letzten Gruppe aufgeführt – zusammen mit allen über Sechzigjährigen oder Mitarbeitenden im Lebenseinzelhandel.
Seit Wochen machen die Betroffenen auf ihre verzweifelte Lage aufmerksam. Der 23-jährige Tom Förster hat bereits Mitte Dezember, also noch vor Erlass der Impfverordnung, in einem offenen Brief an Gesundheitsminister Spahn appelliert, dass er und andere schwerkranke junge Risikopatienten nicht vergessen werden dürfen.
Bei dem ebenfalls an Muskeldystrophie leidenden 30-jährigen Benni Over ist die Krankheit schon weiter fortgeschritten. Seit vier Jahren benötigt er künstliche Unterstützung beim Atmen. Auch er und seine Eltern wollten nicht klaglos hinnehmen, dass seine Impfung auf den Sankt-Nimmerleinstag verschoben wird. Sie gingen an die Öffentlichkeit, schrieben 2000 Briefe an Politikerinnen und Politiker. Mehrere ältere Menschen und eine Krankenschwester baten darum, ihre Impfung an den jungen Mann abtreten zu dürfen. Das alles war zunächst erfolglos. Angeblich hat sogar ein sogenannter „Ethikbeirat Corona-Schutzimpfungen“ des Landes Rheinland-Pfalz die vorgezogene Impfung von Benni abgelehnt. Vielleicht sollte man das zum Anlass nehmen, das Attribut „Ethik“ aus der Bezeichnung dieses Gremiums zu streichen. Als Benni Over und seine Eltern Gelegenheit zu einem Telefonat mit Ministerpräsidentin Malu Dreyer bekamen, hat diese dann allerdings das offensichtlich Richtige getan und die sofortige Impfung von Benni veranlasst. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass Ministerpräsidentin Dreyer besser als andere die Situation verstanden hat: aufgrund ihrer MS-Erkrankung hat sie selbst mit einer einschränkenden Behinderung zu leben.
Allerdings sollten Menschen wie Benni Over nicht ihre Impfung aufgrund von einer Art „Gnadenakt“ einer mitfühlenden Ministerpräsidentin bekommen. Sie sollten durch Änderung der Impfverordnung einen Anspruch auf Impfung mit höchster Priorität haben. Und Benni Over ist kein Einzelfall. In Hamburg haben jüngst die behandelnden Ärzte einer Krebspatientin darum gebeten, ihre Patientin vor Operation und Chemotherapie zu impfen. Die Hamburger Gesundheitsbehörde hat das abgelehnt, weil die Frau noch nicht über 80, sondern erst zwischen 60 und 70 Jahre alt sei. Die Dame ist darauf hin vor das Verwaltungsgericht gezogen, das diese – man kann es nicht anders nennen – irrsinnige bürokratische Entscheidung korrigiert hat. Das Gericht hat entschieden, dass die Frau Anspruch auf eine sofortige Impfung hat.
Gesundheitsminister Spahn sagt: Die Verletzlichsten sollen zuerst geimpft werden. Leider wird seine Impfverordnung diesem Anspruch nicht in vollem Umfang gerecht. Stand heute führt die Impfverordnung zu offensichtlich ungerechten und auch unmoralischen Benachteiligungen von jüngeren Risikopatienten. Auch im internationalen Vergleich ist diese Benachteiligung frappant. Chronisch Kranke oder Krebspatienten sind in Österreich beispielsweise in der dritten von insgesamt sieben Gruppen auf der Priorisierungsliste.
Damit wirklich alle derjenigen, die am verletzlichsten sind, bei den Corona-Impfungen priorisiert werden, muss die deutsche Impfverordnung dringend überarbeitet werden. Das ist aus ethischer Perspektive eindeutig. Passiert das nicht, kommt es weiterhin zu ungerechtfertigten Benachteiligungen, und immer mehr Betroffene werden – völlig zu Recht – vor Gericht ihre Impfung einklagen.