Peter Schallenberg | 17. Mai 2021
Impfen und Freiheit
Grundrechte im demokratischen Rechtsstaat sind keine vom Staat gewährte Privilegien. Sie sind auch nicht mit dem Hinweis auf Solidarität oder Gleichheit vor dem Gesetz zu beschränken oder vorzuenthalten. Nicht der Bürger als Inhaber der ihm aufgrund der Menschenwürde zukommenden Grundrechte trägt die Beweislast für die Ausübung der Grundrechte. Vielmehr trägt der Staat umgekehrt die Beweislast für eine mögliche und zeitlich befristete Einschränkung der Grundrechte, zu denen natürlich auch Meinungsfreiheit, Reisefreiheit und Religionsfreiheit gehören. Der Staat muss sehr genau begründen, warum er bestimmte Grundrechte in einer Situation des allgemeinen Notstandes für einen überschaubaren Zeitraum suspendiert und einschränkt. Fallen die Bedingungen des Notstandes weg, ist unverzüglich die Einschränkung von Grundrechten aufzuheben. Allgemeine Solidarität ist keine Bedingung des Notstandes, die eine dauerhafte Behinderung der Grundrechte erlauben würde.
In der Zeit der Corona-Pandemie hat der Staat aufgrund des erhöhten Infektionsrisikos die Bewegungs- und Reisefreiheit der Bürger stark eingeschränkt. Wenn jetzt eine Impfung vorliegt, die nicht nur eine eigene Ansteckung, sondern auch eine Weitergabe des Virus sehr unwahrscheinlich macht, besteht kein Grund mehr, den Geimpften die Grundrechte mit dem Hinweis auf Solidarität mit den Nichtgeimpften zu verweigern. Daraus erwächst natürlich noch kein Anspruchsrecht auf Zugang zu Restaurants oder Geschäften; dies ist eine Frage der vom Unternehmer festzulegenden Geschäftsbedingungen. Aber das Freiheitsrecht ist unverzüglich in Kraft zu setzen, auch wenn dadurch mittelfristig eine Zwei-Klassen-Gesellschaft entsteht. Umso mehr Anstrengung der Politik ist jetzt nötig, um noch schneller allen ein Impfangebot zu machen und zusätzlich die Impfpriorisierung aufzuheben bzw. zu modifizieren. Denn jetzt wäre verstärkt an Impfpriorisierung der Kinder und Jugendlichen und derjenigen zu denken, die in besonders exponierter Weise tätig sind: in den öffentlichen Verkehrsmitteln, in Pflegeberufen etc. Statt an einer Impfpriorisierung festzuhalten, sollte man sich Gedanken machen, wie die Zeit des Sommers genutzt werden kann zur Vorbereitung auf einen erneuten Anstieg der Epidemie im Herbst und Winter. Und neben dem verstärkten Ausbau der Intensivstationen und der Aufstockung der Pflegekräfte in der Intensivmedizin braucht es unbedingt die durch Impfungen ermöglichte Normalisierung des Bildungswesens, insbesondere der Schulen. Neben der verstärkten Bereitstellung von zusätzlichen Klassenräumen und kleineren Klassen, intelligenter Belüftungstechnik und vernetzten digitalen Angeboten wird das Impfangebot an Kinder wie Lehrer eine sehr große Rolle spielen. Denn eines ist sicher: Die Impfung gegen COVID19 wird dauerhaft die schärfste Waffe gegen die Krankheit sein; sie sollte gerecht organisiert sein; das schließt Priorisierung und vorübergehende Ungleichheit in Zugangsrechten und Freiheiten nicht aus.