Lars Schäfers | 15. Oktober 2021
Impfen ist auch Wirtschaftsschutz
Zur Ethik des Impfens
„Impfpflicht“ hat beste Chancen, Reizwort des Jahres 2021 zu werden. Der Weltärztebund will sie, Regierungspolitiker hingegen lehnen ihre Einführung (Stand: 27.08.21) ab. Dies tun sie nicht allein, um der lautstarken Minderheit (ver)querdenkender Impfgegner oder rechtsradikalen Politikern in ihren Fantasien von einer vermeintlichen „Gesundheitsdiktatur“ im „Impfwahn“ kein neues Futter zu geben. Sorgen bereiten den Politikern vielmehr jene vielen, die zum Impfen „Ja“, zur allgemeinen Impfpflicht aber „Nein“ sagen. Und das aus gutem Grund, denn die Gefahr einer möglichen Grundrechts- und damit Verfassungswidrigkeit der Pflicht zum Pieks steht im Raume. Sie ist nicht nur rechtlich, sondern auch ethisch brisant. Es geht im freiheitlichen Verfassungsstaat hierbei um die heikle Abwägung der beiden Grundwerte Freiheit und Sicherheit.
Verfassungsrechtlich gilt: Grundrechte dürfen dann eingeschränkt werden, wenn es dafür ein legitimes Ziel und keine milderen Mittel gibt, es zu erreichen. Lebensschutz durch Virenschutz ist ethisch betrachtet ein solches Ziel, das es rechtfertigen kann, Gemeinwohlbelange über die Freiheit des Einzelnen zu stellen.
Es geht bei einer Ethik des Impfens indes nicht nur um Sicherheit für die Gesundheit der Bürger, sondern ebenso um den Schutz der krisengeschüttelten Wirtschaft: Nachdem dieser unser Wohlstandsmotor, mit Folgen für all die Menschen, die ihn am Laufen halten, vom Virus und den zuweilen notwendigen Maßnahmen zu dessen Eindämmung immer wieder gefährlich ins Stottern gebracht wurde, ist das aktuelle Signal der Politik richtig: keine allgemeinen Lockdowns mehr – auch und erst recht nicht angesichts der vierten Welle als einer Pandemie der Ungeimpften.
Wo der Rechtsstaat zu Recht vorsichtig zu sein hat, bleibt Unternehmen der Privatwirtschaft dagegen mehr Spielraum. Private Anbieter dürfen im Rahmen ihrer Vertragsfreiheit selbst entscheiden, wen sie als Kunden, Käufer und Klienten annehmen und wen nicht. Friseursalons, Theater, Bars und Co. dürfen in Hamburg bereits ausdrücklich nach der 2G-Regel Ungeimpfte ausschließen. Die Diskriminierungstatbestände des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) beziehen sich nicht auf den Impfstatus. Mehr Freiheit sollte auch durch mehr Rechtssicherheit für Arbeitgeber im Umgang mit freiwillig ungeimpft bleibenden Angestellten, besonders in kontaktintensiven Branchen, ermöglicht werden.
Es mag sein, dass manche Impfskeptiker subjektiv gute Gründe für ihr Zögern anführen können. Es findet sich darunter jedoch kein einziger nach Kants Kategorischem Imperativ verallgemeinerbarer Grund dafür, sich der Impfung zu verweigern. Und doch sind noch immer zu viele Menschen ungeimpft, während zugleich Millionen Impfdosen in die Tonne zu wandern drohen, die in anderen Weltregionen dringend gebraucht werden.
Ein weiteres ethisches Problem ist, dass die von der gefährlicheren Deltavariante angeführte Welle vier nicht nur die Unwilligen gefährdet, sondern auch die vielen, die sich nach derzeitigem Stand (noch) nicht impfen lassen können: Kinder unter 12 Jahren. Impfen bedeutet also auch Kinderschutz: Zwar erkranken diese seltener schwer, kommt es aber zur Durchseuchung bei den in Deutschland etwa zehn Millionen U12-Jährigen, könnten selbst bei einer möglichen Hospitalisierungsquote von bloß einem Prozent immerhin schon etwa 100.000 Kinder krankenhausreif erkranken. Will man das vermeiden, gibt es keine bessere Alternative zur größtmöglichen Durchimpfung der impffähigen Bevölkerung.
Unternehmen, die dieses Ziel wirksam fördern, indem sie bei sich die 2G-Regel umsetzen und über ihre Betriebsärzte zudem selbst Impfungen anbieten, betreiben daher nicht allein Lockdownprävention aus wohlverstandenem Eigeninteresse; sie dienen damit zugleich dem Gemeinwohl in der Gesellschaft. Das ist ganz im Sinne der katholischen Soziallehre mit ihren Sozialprinzipien der Subsidiarität und Solidarität: Unternehmen, die die Durchimpfung fördern, handeln subsidiär, indem sie staatliche Verpflichtungen unnötig machen. Sie zeigen sich zudem solidarisch, insofern sie einen Beitrag dazu leisten, Leben und Gesundheit von Menschen zu schützen. Zugleich setzen sie der Politik das Signal, dass diese zur Umgehung der ultima ratio einer gesetzlich verordneten Impfpflicht auf ihre Mithilfe durch Impfanreize und Impfangebote setzen kann. Freilich bieten Impfungen insbesondere Risikogruppen keine perfekte Überlebensversicherung und das Virus ist gekommen, um erstmal zu bleiben. Doch auch ohne ein unrealistisches und in ihren Nebenfolgen gefährliches „No Covid“-Ziel lohnt es sich, wenn Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft die Impfkampagne gemeinsam so intensiv fördern, wie es nur geht. Es steht ethisch gesehen einfach zu viel auf dem Spiel. Kurzum: Impfen ist Lebensschutz, ist Gesundheitsschutz, ist Kinderschutz, ist Wirtschaftsschutz.
(zuerst erschienen in: Neue Mitte – Katholisches Magazin für Wirtschaft & Soziales Nr. 3/2021)
Der Verfasser
Mag. theol. Lars Schäfers ist Wissenschaftlicher Referent der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ) in Mönchengladbach sowie Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Christliche Gesellschaftslehre der Katholisch-Theologischen Fakultät der Bonner Universität und Generalsekretär von Ordo socialis – Wissenschaftliche Vereinigung zur Förderung der Christlichen Gesellschaftslehre.