Arnd Küppers | 16. Oktober 2020
Hochmut kommt vor dem Fall
Europa in der Corona-Pandemie
Damit keine Missverständnisse aufkommen, möchte ich vorab eines klarstellen: Auch ich halte das Krisenmanagement der US-Regierung in der Corona-Pandemie für erratisch, manche Aktionen von Präsident Trump für absolut verantwortungslos und viele seiner Äußerungen über das Virus schlicht für wahnwitzig. Trotzdem bin ich sehr dafür, es mit der althergebrachten Regel zu halten, man soll doch erst einmal vor seiner eigenen Haustüre kehren. Und deshalb irritiert es mich schon seit längerem zu sehen, mit welchem Überlegenheitsgefühl, ja mit welcher Arroganz und Häme manche Medien und politisch Verantwortliche in Europa auf das Pandemiegeschehen in den USA und das Versagen der dortigen Regierung blicken.
Ja, es ist vieles schlecht gelaufen in Amerika. Aber in Europa sieht es in den meisten Ländern keineswegs besser aus als in den USA, in vielen sogar schlechter. Und diese Feststellung gilt keineswegs nur bezogen auf die momentane Situation. Manche europäischen Länder haben, gerechnet auf die Bevölkerung, schon jetzt mehr Tote zu beklagen als die USA: Spanien oder Belgien etwa.
Ich finde, dass man diese Zahlen kennen sollte, aber ich glaube ausdrücklich nicht, dass man aus ihnen leichter Hand einen Vorwurf gegen irgendwen ableiten kann. Es scheint in der Eigenart des Coronavirus zu liegen, dass es immer wieder durch „Superspreading Events“ verbreitet wird. Kommt es in einem Land in kurzer Zeit zu mehreren solcher Ereignisse, kann die Situation offenbar leicht außer Kontrolle geraten. Vielleicht hatten wir in Deutschland bislang einfach ziemlich viel Glück, während andere Länder Pech hatten. Ganz offensichtlich sehr viel Pech hatte Italien, das als erstes europäisches Land von der Pandemie ergriffen wurde und gar keine Zeit hatte, sich auf diese Herausforderung adäquat vorzubereiten.
Allerdings ist seit der ersten Infektionswelle inzwischen mehr als ein halbes Jahr vergangen. Und allen war klar, dass das Risiko steigender Infektionszahlen ab dem Herbst und Winter wieder zunehmen würde. Trotzdem gerät nun schon in den ersten Wochen dieses Herbstes die Situation in Europa wieder außer Kontrolle. Die Zahl der Neuinfektionen ist in Frankreich, Spanien, Belgien und den Niederlanden, gemessen an der Bevölkerungszahl, derzeit sehr viel höher als in den USA.
Manches hat sich gegenüber dem Frühjahr geändert, insbesondere Folgendes: Wir wissen heute viel mehr über das Virus als vor einem halben Jahr, und wir hatten diesmal genügend Zeit, uns auf die zweite Welle im Herbst und Winter vorzubereiten. Aber diese Zeit ist in Europa offensichtlich nicht oder in nicht ausreichendem Maß genutzt worden. Das ist ein Versäumnis und daraus kann man – anders als im Frühjahr – sehr wohl einen Vorwurf gegen die politisch Verantwortlichen ableiten. Um es klar zu sagen: Wenn es jetzt zu einer Eskalation des Infektionsgeschehens und einer Überforderung des Gesundheitswesens kommt, dann ist der Grund kein unvermeidliches Schicksal, sondern politisches Versagen. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte beispielsweise hat die zurückliegenden Monate lieber damit verbracht, die Bemühungen um einen solidarischen Corona-Rettungsfonds der EU zu sabotieren, als damit, die Ausbreitung des Coronavirus im eigenen Land einzudämmen und das Gesundheitssystem zu ertüchtigen. Die zweite Welle ist gerade erst angerollt, und schon jetzt werden – wie bereits im Frühjahr – die Intensivbetten in den Niederlanden knapp, und Nordrhein-Westfalen ist gebeten worden, Intensivplätze für holländische Patienten zur Verfügung zu stellen. Und erst jetzt, wo das Infektionsgeschehen wieder völlig außer Kontrolle geraten ist, führen die Niederlande eine weitgehende Maskenpflicht im öffentlichen Raum ein.
In Deutschland ist es bis jetzt zweifellos besser als in den meisten anderen europäischen Ländern gelungen, die Epidemie unter Kontrolle zu halten. Auch das Gesundheitswesen hat bislang gut funktioniert. Das exponentiell wachsende Infektionsgeschehen der letzten Tage bestärkt aber den Verdacht, dass wir Deutsche in der ersten Welle vor allem sehr viel Glück hatten. Und wir hatten und haben eine besonnene Bundeskanzlerin, die im Frühjahr das Heft des Handelns in die Hand genommen und damit einen entscheidenden Unterschied gemacht hat. Bei der Konferenz mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten in dieser Woche konnte sich die Kanzlerin allerdings nicht mehr durchsetzen. Unzufrieden sei sie mit den Beschlüssen, und sie sehe Unheil auf Deutschland zukommen, drang aus dem Verhandlungsraum nach draußen. Die Physikerin im Kanzleramt hatte eigens den Braunschweiger Immunologen Michael Meyer-Hermann zum Vortrag eingeladen, um den Länderchefs klarzumachen, was exponentielle Verbreitung des Virus bedeutet. Der Mann wurde sehr deutlich: Es sei nicht fünf vor zwölf, sondern zwölf. Gefruchtet hat es nicht viel. Über den Minimalkonsens und die halbherzigen Beschlüsse, auf die sich die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten einigen konnten, hat sich der Experte im Anschluss genauso enttäuscht gezeigt wie Kanzlerin Merkel und ihr Staatsminister Helge Braun, seines Zeichens Intensivmediziner im Zivilberuf.
Was regen wir uns also auf, dass US-Präsident Trump die Mahnungen des Immunologen Anthony Fauci immer wieder in die Luft schlägt? Ja sicher, der derzeitige amerikanische Präsident ist ein Rüpel – aber diese Erkenntnis ist weder neu, noch trägt sie etwas bei zu der Frage, was wir jetzt tun müssen, um die Pandemie in Europa wieder einzudämmen und dadurch Leben zu retten. Betrachten wir es einmal nüchtern, dann müssen wir uns eingestehen: Im Ergebnis stehen wir Europäer heute bei der Pandemie-Bekämpfung nicht besser da als die Amerikaner.
Kehren wir also doch wirklich erst einmal vor der eigenen Haustüre. Und wenn wir unbedingt auf andere Länder schauen wollen, sollten das zum Beispiel Taiwan, Japan oder Südkorea sein. Sie liegen viel näher an China, haben die Pandemie aber schnell unter Kontrolle gebracht und nie wieder außer Kontrolle geraten lassen – und zwar ohne Demokratie und Rechtsstaat außer Kraft zu setzen oder ihre Volkswirtschaften lahmzulegen. Für die asiatischen Demokratien, die viel mehr Erfahrung mit aus China eingeschleppten Virus-Epidemien haben, interessiert sich bei uns aber leider kaum jemand. Wir schimpfen lieber auf die Amerikaner und pflegen im Übrigen eine gewisse eurozentrische Ignoranz.