Kathrin Rosi Würtz | 11. September 2020
Gesundheitskommunikation als Herausforderung
Corona aus soziologisch-gesundheitsethischer Perspektive
Wer auf dem hohen Rossrücken einer soziologischen Beobachtungsplattform sitzt und die Aussicht über die weiten Wissenschaftsfelder genießt, vergisst eventuell im Eifer der erkenntnisgetriebenen Theorieentwicklung, dass die Corona-Pandemie nicht plötzlich in Erscheinung trat und nun unvorhersehbar ihr Unwesen mit unseren Gesundheiten treibt. Spätestens mit der Aufforderung des „Social Distancing“ rüttelte das Virus an den Türen des Elfenbeinturms. Die Blitzartigkeit des bühnenreifen Auftritts der lebensgefährdenden Krankheit Covid-19 versetzte auch Soziolog*innen in eine vorrübergehende Schockstarre. Die Präventivmaßnahme des Abstandhaltens erhielt vorschnell eine Bezeichnung, die nicht hinterfragt zu gesundheitsschädlichen Fehlinterpretationen führen kann.
Kaum aus dem kurzzeitigen Dornröschen-Schock erwacht, war sich der bunte Strauß an Bindestrich-Soziolog*innen ziemlich schnell ziemlich sicher, dass mit dem Ausdruck „social“ eigentlich die physische Distanz zwischen Menschen gemeint ist. Und auch die berichtenden Medien revidierten relativ flugs, dass es sich um den räumlichen Abstand handle und nicht um die Vermeidung sozialen Lebens. Der Einfachheit halber bleiben dennoch einige bei der irreführenden Bezeichnung.
„Soziales Handeln“ meint im soziologischen Sinn ein Verhalten, das sich auf das Verhalten eines anderen Menschen (oder mehrerer) (lateinisch socius „Gefährte“) bezieht und dessen Verlauf durch beobachtende Objektivierung und Aneignung beeinflusst wird. Der viel beschworene Supersoziologe Max Weber verbucht hierunter auch das Unterlassen und Dulden. Vom moralisch aufgeladenen, umgangssprachlichen Alltagsbegriff des „Sozialen“ ist hier nicht die Rede. Doch können wir uns den nüchternen Begriff des sozialen Handelns in der akuten Pandemiediskussion zunutze machen und ihm etwas konstruktiv Positives abgewinnen?
Die Verschränkung anwendungsbezogener und wissenschaftsorientierter Perspektiven mag in manchen Fällen zu verschwommenen Doppelbildern führen. Doch im Fall der befürchteten Entfremdung durch Abstandsregeln und Nasen-Mund-Schutz-Vermummungen kann der soziologische Begriff des „sozialen Handelns“ ein Plus für die zwischenmenschliche Kommunikation bedeuten. Wir sollten uns ständig vor Augen führen, dass auch bei geZOOMter Kommunikation Menschen körperlich und leibhaftig an den Endgeräten sitzen, stehen oder wie auch immer in ihrem sozialen Lebensraum positioniert sind. Diese individuellen, durch und durch menschlichen Tatbestände in Zukunft im Sinn einer Gesundheitsprävention als Handlungsmaxime zu etablieren, bleibt auch weiterhin einer der wichtigsten alltagsweltlichen Aktionsräume: virtuell und real!
Gesund oder nicht gesund: Das ist hier die Frage!
Nach diesem eher theatralischen Epilog dieses Blogbeitrags geht es nicht weniger dramatisch weiter: Nichts ist uns so nah wie der eigene Körper, könnte die provokante These lauten, wenn wir uns dem Themenfeld Gesundheit aus einer soziologisch angehauchten Perspektive nähern. Das Betrachtungskonzept der Salutogenese scheint in Zeiten der Corona-Pandemie wieder in den öffentlichen Diskurs mit seinem Alter-Ego – nämlich der Pathogenese – gezerrt zu werden. Sind Gesundheit und Krankheit wirklich zwei Seiten einer Medaille oder verhält es sich in der Praxis doch anders als angenommen?
Um der nebulösen Sphäre der Gesundheit im weitesten Sinn erst einmal vorsorglich analytisch zu begegnen, hilft die Beobachtung einzelner Phänomene des sozialen Lebens. Vielleicht ist der Einsatz dieses Kniffs auch dem Versuch des Kneifens in Bezug auf eine soziologische Positionierung gegenüber ethischen Fragestellungen geschuldet. Dennoch taucht dieser Beitrag mit einem gewagten Sprung – vom Aussichtsturm der reinen und feinen Wissenschaft – in die Tiefen des praktischen Tuns am Beispiel präventiven Gesundheitshandelns in Zeiten von Corona und Covid-19 ein.
Die Vielzahl an teils divergierenden Definitionen von Gesundheit und der damit verbundenen Möglichkeit, dass Gesundheit ein relativ zu betrachtendes Phänomen sei, macht eine ethische Positionierung aus soziologischer Perspektive nicht einfacher. Die gängigste aller Gesundheitsdefinitionen ist die der WHO[1], die täglich aufgrund steigender Fallzahlen ihrer Falsifikation und Corona bedingten Relativierung zu trotzen versucht. Die Grundvoraussetzungen für körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden, die in der Ottawa-Charta bereits 1986 verschriftlich wurden, lesen sich unter den jetzigen Bedingungen wie Utopien, deren Nicht-Erreichen der dramatischen Pandemie-Klimax Applaus spenden.
Gelungene Gesundheitskommunikation ist sicherlich kein Allheilmittel, doch durchaus mehr als nur ein paar Tropfen Antiseptikum auf die offene Wunde. Auch oder besser: Besonders jetzt während der Pandemie gilt es, das Visier (oder den Nasen-Mund-Schutz) hygienisch korrekt zu positionieren und gesundheitsförderliche Aufklärung gezielt und leicht verständlich zu betreiben.
Allen voran sind Menschen der Gesundheitsfachberufe als persönliche Vermittler*innen zu nennen: Niemand sonst war und ist so nah an Patient*innen und ihren Familien beruflich tätig und besitzt zeitgleich das notwenige Know-how für ein gesundes Leben im ganz praktischen Sinn. Soziales Gesundheitshandeln ist nicht nur im realweltlichen Raum des Behandlungszimmers zu praktizieren, sondern ebenso virtuell im Social Web.
Health @ Social Media
Mit jedem Post oder Tweet, der gesundheitsrelevanten Content mit sich trägt und in Szene setzt, können Pfleger*innen, Logopäd*innen, Ergotherapeut*innen, Physiotherapeut*innen und viele andere Vertreter*innen medizinischer Berufe ein vertrauensvolles und im besten Fall evidenzbasiertes Zeichen setzen und zu aktivem Gesundheitshandeln aufrufen: für ihren Berufsstand, für ihre Patient*innen und auch für sich selbst. Die Herausforderung besteht vor allem darin, die richtigen Worte zu finden, um komplexe medizinische Sachverhalte, einfach verständlich und dennoch korrekt dazustellen.
Eine Mammutaufgabe, sicherlich, aber ohne Public Science und gezielte Wissenschaftskommunikation werden Forschungsergebnisse in der gesellschaftlichen Breite nicht Fuß fassen können. Eindrucksvoll hat Professor Dr. med. Christian Drosten (Virologe der Charité Berlin) mit dem Podcast „Das Coronavirus-Update“[2] in Zusammenarbeit mit dem NDR gezeigt, dass Medienarbeit durch regelmäßige Konfrontation trainiert werden kann. Wissenschaftler*innen müssen sich nur trauen, den Schritt in die Medienwelt zu wagen. Sicherlich wäre eine derartige Öffentlichkeitsbekundung als soziales Handeln (soziologisch und umgangssprachlich verstanden) zu deuten, da es gesamtgesellschaftlich um bedeutend mehr geht als nur um das gewohnte Publizieren von Forschungsergebnissen für einen geschlossenen Kolleg*innenkreis.
Studien über soziale Online-Netzwerke haben bereits vor der Coronakrise gezeigt, welche positiven und negativen Auswirkungen die Gesundheitskommunikation über diese Kanäle während einer Epidemie haben kann. Umso herausfordernder ist die Auseinandersetzung mit diesen Medien, wenn es um die Verbreitung von Health Fake News geht. Als Beispiel sei hier die Ebola-Epidemie[3] von 2014 genannt.
Microblogging à la Twitter kann über bestimmte Hashtags mehrere Millionen Menschen in Sekundenschnelle erreichen. Ebenso ist die individuelle Mikroebene unweigerlich mit der Makroebene ganzer Gesellschaften verwoben, wie das aktuelle Beispiel der Corona-Pandemie uns schmerzhaft und global vor Augen führt.
Call 2 Action: Gesundheit neu begreifen!
Es mag banal klingen, aber betrachten wir die aktuelle Pandemie, so wird uns von einem zoonotischen Virus sehr direkt und unmittelbar verdeutlicht, dass Gesundheit ein essenzielles Allgemeingut sein müsste, zu dem jedoch nicht alle Menschen gleichermaßen Zugang haben. 2019 formulierte der Präsident des World Health Summit Professor Dr. med. Detlev Ganten während des Präventionskongresses in Bonn die Umstände treffend in den simplen Satz „Gesundheit ist alles“ und stellte entsprechend das dritte der insgesamt 17 Nachhaltigkeitsziele in den Fokus seiner Tätigkeit. SDG (Sustainable Development Goal „Good Health and Well-Being“) 3[4] „Gesundheit und Wohlergehen“ ist so grundlegend für alle weiteren Bemühungen, den Planeten Erde zu einem „besseren“ Lebensort für uns Menschen zu machen, dass es zur Maxime sozialen Handelns werden müsste.
Sozial klug zu handeln bedeutet somit, gesundheitlich klug zu handeln und das sowohl im individuellen als auch im globalen Kontext. Nur das wohlwollende Ineinandergreifen von alltagsweltlicher Praxis und wissenschaftlicher Theorie, die ihre Wurzeln tief in die praktische Anwendung austreiben lässt, gepaart mit verständlichen Formen der Wissenschaftskommunikation kann uns nachhaltige Wege aus der Corona-Pandemie aufzeigen. Gesundheit neu begreifen zu lernen, ist unsere größte Herausforderung: im Kleinen wie im Großen, in unserer direkten Nachbarschaft, aber auch im globalen Garten, den uns dieser Planet – mittlerweile mit Gegenwehr – zur Verfügung stellt. Oder um die Theatralik des Textbeginns wieder aufzugreifen: Nur gemeinsam sind wir stark!
[1] https://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0006/129534/Ottawa_Charter_G.pdf?ua=1 (abgerufen am 10.09.2020)
[2] https://www.ndr.de/nachrichten/info/podcast4684.html (abgerufen am 10.09.2020)
[3] Kalyanami et al. (2015): Facts and Fabrications about Ebola: A Twitter Based Study, https://arxiv.org/pdf/1508.02079.pdf (abgerufen am 10.09.2020)
[4] https://www.un.org/sustainabledevelopment/health/ (abgerufen am 10.09.2020)
Die Verfasserin
Kathrin Rosi Würtz, M.A. (wuertz@uni-bonn.de) ist Doktorandin der Soziologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Die staatlich anerkannte Physiotherapeutin schreibt ihre Doktorarbeit über Gesundheit in der Unternehmenskommunikation von Krankenhäusern am Beispiel von Social Media. Ihr Dissertationsprojekt wird von einem Forschungsblog begleitet: www.healthyhospital.de.