Stefan Gaßmann | 09. November 2020
Freiheit heißt Verantwortung – Verantwortung heißt Freiheit
Ein Perspektivwechsel im Blick auf den Lockdown-Light
Seit letzter Woche gelten in Deutschland wieder verschärfte Regeln zur Kontaktreduzierung, um die Ausbreitung des Erregers SARS-CoV-2 zu verlangsamen. Was vielen unmöglich schien, ist nun wieder Wirklichkeit. Und überall regt sich – wenngleich auch nicht massenweise – Widerstand. Zumal die Parlamente die von den Ministerpräsidenten zusammen mit der Bundeskanzlerin ausgehandelten Maßnahmen in vielen Ländern nur noch mehr oder weniger abnicken durften. Und auch die Änderung des Infektionsschutzgesetzes wirkte Ende letzter Woche eher so, als wenn die Bundestagsabgeordneten hier in der überwiegenden Mehrheit sich nicht als diejenigen verstehen – und auch von anderen nicht so verstanden werden –, die nach Debatte und Abwägung die wesentlichen politischen Entscheidungen treffen. Sie wirkten eher wie Assistenten der Bundesregierung.
Das zunächst offensichtliche Problem, wenn wegweisende und einschneidende Entscheidungen im exklusiven Kreis der Ministerpräsidentenkonferenz und nicht vorrangig in den Parlamenten gefällt werden, ist, dass sich diese Debatte immer mehr in den halböffentlichen Raum verlagert. Dort klumpen sich Wahrheiten, Halbwahrheiten und Unwahrheiten zu einem klebrigen Brei zusammen, der teilweise ziemlich unappetitlich ist. Ein Blick in manche „Diskussion“ in den sozialen Medien kann diesen Eindruck schnell bestätigen. Überdramatisierung und Verharmlosung zugleich und überall: Entweder wird die Krankheit verharmlost und die Eingriffe in die Grundfreiheiten überdramatisiert, indem man beispielsweise die Änderung des Infektionsschutzgesetzes als „Ermächtigungsgesetz“ tituliert oder von der „Corona-Diktatur“ spricht. Umgekehrt gilt aber häufig dasselbe: Die Freiheitseingriffe werden verharmlost und die Krankheit wird überdramatisiert, so dass die Bürger nur gerne und willfährig sich bevormunden und einschränken lassen, „Der Staat muss es regeln“, „Eigenverantwortung funktioniert nicht!“.
Das einzige aber, das gegen Verharmlosung und Überdramatisierung hilft, ist nüchternes und vielleicht langweiliges Differenzieren und Argumentieren – etwas, das es im Zeitalter der Twitterisierung schwer hat. Denn nur Argumente und klare Aussagen ermöglichen ein Gespräch unter Erwachsenen, in dem man einen sinnvollen Konsens erreichen kann. Verzichtet man darauf und entscheidet paternalistisch von oben herab, dann gebärden sich die Bürger auch schnell wie Kinder: entweder wie bockige Kinder, denen man etwas weggenommen hat oder wie ängstliche Kinder, die sich an Muttis Rockzipfel klammern und hinter Papa Markus’ starken Schultern verstecken.
Wenn man sich jedoch auf eine nüchterne Betrachtung einlässt, ist als erstes und gegen alle Kritiker der Maßnahmen festzuhalten: Wir haben gar keinen richtigen keinen Lockdown! Ein Lockdown wäre eine beinahe-Massenquarantäne wie im Frühjahr,als nur das allernötigste an Läden geöffnet hatte und neben der Gastronomie und dem Kulturbetrieb auch viele andere Arbeitsstätten sowie die Schulen und die Gotteshäuser geschlossen haben. Gleichzeitig stellt sich sofort die Frage: Warum wird dann das Betriebsverbot für Gastronomie, Freizeitgewerbe und Kulturbetrieb in Kombination mit dem Verbot von Großveranstaltungen und Kontaktbeschränkungen als „Lockdown-light“ bezeichnet, und zwar gerade von Politikern? Warum wird hier etwas verunklart?
Den sachlichen Grund dafür ließ die Bundeskanzlerin bei der Pressekonferenz nach der Ministerpräsidentenkonferenz am 2. November deutlich durchblicken: Es gehe ja gar nicht darum, eine gerechte Regelung zu finden, sondern eine „lebenspraktische“. Es gehe nicht um eine Diskussion um „dieses oder jenes Hygienekonzept, sondern um die flächendeckende Reduzierung von Kontakten“, ohne dass dabei die Wirtschaft allzu großen Schaden nähme und Schulen wie Kitas geschlossen werden müssten. Eine differenzierte und mithin gerechte Regelung, die dann womöglich noch einen schnarchlangweiligen Namen in Behördendeutsch wie etwa „Gaststättenschließungsverordung zur Eindämmung der Ausbreitung des Erregers SARS-CoV-2“ bekommen hätte, dürfte sich wohl kaum nachhaltig in das Gedächtnis einbrennen.
Zugleich ließ Kanzlerin Merkel keinen Zweifel daran, dass es aus ihrer Sicht hier überhaupt keinen politischen Spielraum gäbe; das Infektionsgeschehen sei eher eine Art „Naturkatastrophe“. Zumal die Politiker auch nur den Empfehlungen der Wissenschaftler folgten. Ein Sachzwang also. In dieser technokratischen Logik ist es dann auch nur konsequent, dass die Exekutive gar nicht anders handeln kann. Warum dann überhaupt noch die Parlamente befragen, möchte man daraus folgern. Wenn aber das durch den „Sachzwang“ diktierte Ziel die „Kontaktreduzierung“ ist, dürfte die Bezeichnung „Lockdown-Light“ wohl auch darauf setzen, dass bei dem Begriff „Lockdown“ in allen Ohren die Alarmglocken klingeln und sich die Bürgerinnen und Bürger eigenverantwortlich bemühen, ihre Kontakte zu reduzieren. Darum wurde die Bundeskanzlerin auch nicht müde zu betonen, dass es „Jeder und Jede in der Hand“ habe und die Maßnahmen auf Akzeptanz und das „Mitmachen der Bevölkerung angewiesen seien.“ Und ganz nüchtern betrachtet ist genau das des Pudels Kern: Die Regierung hat es gar nicht in der Hand, selbst wenn sie es wollte, sie könnte gar nicht flächendeckend eine Kontaktreduzierung kontrollieren. Es kommt auf die eigenverantwortlichen Bürger an, anders ist dieser Krise gar nicht Herr zu werden.
Umso fataler mutet es daher an, wenn offensichtlich die Bundesregierung in Person der Kanzlerin das Problem nur in den Kategorien des „Sachzwangs“ betrachtet, dem man mit der mit dem Begriff „Lockdown-Light“ verbundenen Evozierung irrationaler Ängste begegnen will, um die Bürger zu disziplinieren. So behandelt man Bürger nicht wie mündige Erwachsene, sondern wie Kinder, die man vor sich selber schützen muss. Allerdings hört man von vielen dieser Bürger auch gerne den Satz: „Eigenverantwortung funktioniert nicht“. Ums Funktionieren geht es also. Der Sachzwang hat gesprochen. Und wenn es der Sachzwang gebietet, dann müssen Vater Staat – oder Mutter Staat – eben auch paternalistisch agieren, oder eher maternalistisch: nicht mit Druck und Strafe, sondern durch gutes Zureden und Weckung von Gefühlen. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki sieht in den Maßnahmen des „Lockdown-Light“ daher einen „undemokratischen Geist“ der „Volkserziehung“. Damit scheint er recht zu haben.
Aber: auch diejenigen, die die ganze Zeit das Wort „Corona-Diktatur“ vor sich hin grölen, sind Teil des Problems, nicht der Lösung: „Freiheit heißt Verantwortung“ sagte Angela Merkel ebenfalls in besagter Bundespressekonferenz. Wer meint, Regeln würden für ihn nicht gelten, weil er es besser wisse und damit potenziell das Leben seiner Mitbürger gefährdet, ist kein sorgfältig abwägender, mündiger Bürger, der im Gespräch mit allen anderen einen tragfähigen Kompromiss einzugehen bereit ist. Wer bei Anti-Corona-Demos Masken nicht aufsetzt und sich nicht um das Einhalten von Sicherheitsabständen bemüht, wer die Änderung des Infektionsschutzgesetzes als „Ermächtigungsgesetz“ tituliert und bei Debatten den jeweiligen Sprecher anpöbelt, statt ihm mit guten Gründen zu begegnen, der gebiert sich eben selber wie ein bockiges Kind.
Denn, wieder ganz nüchtern betrachtet, ist bei allen Problemen, die mit den Corona-Schutzmaßnahmen verbunden sind, festzuhalten: Etwa 30 Prozent der Bevölkerung sind allein aufgrund von Alter und Behinderung Risikopatienten. Menschen mit Vorerkrankungen kommen noch hinzu. Deren Leben zu schützen ist der innere Sinn aller Maßnahmen. Mögen sie im Einzelnen auch unsinnig sein, mag ihr politisches Zustandekommen fragwürdig sein, mögen die Folgekosten auch hochproblematisch sein: Im Zweifel ist derjenige, der meint, er habe ein Recht darauf Partys zu feiern, auch dafür verantwortlich, dass in einem Krankenhaus Ärzte entscheiden müssen, wer beatmet wird und wer nicht. Wer das billigend in Kauf nimmt, der gebraucht seine Freiheit nicht mündig, sondern gedankenlos, unmoralisch und egomanisch. Mündige Freiheit heißt Verantwortung!
Umgekehrt gilt aber auch im Blick auf den „Lockdown-Light“ deutlich zu unterstreichen: Verantwortung heißt Freiheit! Und die Bundeskanzlerin selber hat es doch klargemacht: Nur das eigenverantwortliche Handeln der Bürger bringt wirklichen und effektiven Schutz. Am Ende helfen nur die A-H-A-Regeln und deren Umsetzung kann gar nicht flächendeckend kontrolliert werden. Jeder hat es in der Hand. Wenn das aber gilt, dann ist eine Politik, die die Parlamente zu Erfüllungsgehilfen degradiert und auf paternalistische, technokratische Erklärungsmodelle setzt, auch im Blick auf die Erfordernisse des „Sachzwangs“ der falsche Weg. Denn so werden die Bürger nicht wie erwachsene, freie Menschen behandelt, um sie auf ihre Verantwortung zu verpflichten. Wer Menschen nicht als Freie behandelt, muss sich auch nicht wundern, wenn sie sich nicht verantwortlich benehmen, sondern für alle Lebenslagen gerne auf „die da oben“ verweisen. Insofern bleibt zu wünschen, dass die Corona-Krise einen Lerneffekt auf breiter Front mit sich bringt: Nur in einer Kultur, die Menschen befähigt und motiviert, frei zu entscheiden, kann auch eine Kultur der Verantwortung wachsen. Das wäre auch eine heilsame Kur gegen manch andere infantilen Auswüchse im Politikbetrieb, sowohl auf Seiten von Politikern als auch von Bürgern. Dann gingen Deutschland und alle anderen Länder stärker aus der Krise heraus, als sie in sie hineingegangen sind.