Arnd Küppers | 05. Februar 2021
Europas Impfdesaster
Wer Vertrauen zurückgewinnen will, muss politische Verantwortung übernehmen
Deutschland und Europa hinken bei den Impfungen hinterher. Das ist inzwischen für jede und jeden offensichtlich. Dass politisch Verantwortliche bis hin zur Bundeskanzlerin diese Situation immer noch schönreden („im Großen und Ganzen nichts schiefgelaufen“) hat allmählich etwas von verzweifelter Realitätsverweigerung. Stand 2. Februar dieses Jahres hat Israel 58,8 Impfdosen pro 100 Einwohner verimpft und steht damit kurz vor der ersehnten Herdenimmunität. Das ist einsame Spitze. Aber auch andere Länder liegen weit vor Deutschland und Europa. In Großbritannien sind zum gleichen Zeitpunkt bereits 14,9 Impfdosen pro 100 Menschen verabreicht worden, in den USA 9,8. Die Schere zur Europäischen Union wird in den kommenden Wochen wohl noch weiter auseinander gehen, denn in beiden Ländern wird bereits in Supermärkten geimpft, demnächst rund um die Uhr.
In Deutschland hingegen herrscht in den Impfzentren gähnende Leere, und selbst die Hochbetagten scheitern allzu oft mit ihren verzweifelten Versuchen, einen Impftermin zu ergattern. Zugleich nehmen die Verteilungskämpfe um den knappen Impfstoff zu: Verschiedene Berufs- und Interessengruppen fordern vorgezogene Impfungen für ihre Klientel – oftmals mit guten Gründen wie bei Lehrerinnen und Lehrern oder bei Polizeibeamten. Allerdings haben auch viele andere dringliche Gründe. Einzelne wiederum drängeln sich – ganz ohne gute Gründe – vor.
Deutschland hat 3,1 Impfdosen pro 100 Einwohner verimpft, das heißt, wir hinken fünf bis zehn Wochen mit den Impfungen hinterher. Das ist für die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt erbärmlich. Und es ist tragisch, denn schlimmstenfalls werden tausende Menschen mehr sterben, weil sie nicht rechtzeitig geimpft wurden. Tausende weitere werden schwer erkranken und unter den Langzeitfolgen ihrer Infektion zu leiden haben. Schulen und Kindergärten werden länger geschlossen oder im eingeschränkten Pandemiebetrieb bleiben müssen. Viele Wirtschaftsbetriebe werden länger im Lockdown verharren müssen, es am Ende vielleicht nicht schaffen und pleite gehen. Tausende Menschen werden ihren Arbeitsplatz verlieren.
Ja sicher, auch in Deutschland und in den anderen Ländern der Europäischen Union wird es irgendwann genug Impfstoff geben, in acht bis zehn Wochen sagt der Bundesgesundheitsminister voraus. Aber die Verzögerung kostet Menschenleben und auch viel Geld: Laut einer vom Allianz-Konzern finanzierten Studie kosten fünf Wochen Impfverzögerung die Europäische Union 90 Milliarden Euro – ein Vielfaches dessen, was man für Impfstoffe und deren Produktion ausgegeben – oder eben auch nicht ausgegeben – hat. Großbritannien und die USA haben pro Kopf ihrer Einwohner rund 28 bzw. 27 Euro für Impfstoffe ausgegeben, für Forschung, Produktion und Kauf. In der Europäischen Union waren es knapp vier Euro pro Kopf, also ein Bruchteil dessen.
Das ist die traurige Wahrheit, und es ist an der Zeit, dass sich die politisch Verantwortlichen ehrlich machen und die Verantwortung dafür zu übernehmen, statt das Offensichtliche weiter zu leugnen und die Situation zu beschönigen. Ansonsten drohen am Ende auch die demokratischen Institutionen und der europäische Gedanke Schaden zu nehmen. Schon jetzt hat sich die Stimmung in Großbritannien wieder erheblich zugunsten der Brexiters gedreht. Die beeindruckende Impfkampagne im eigenen Land und das Impfdesaster in der Europäischen Union werden selbst von manchen ehemaligen Remainern als nachträgliche Bestätigung gesehen, dass der Brexit doch die richtige Entscheidung war.
Es ist deswegen an der Zeit, dass die deutschen und die europäischen Bürgerinnen und Bürger erfahren, was genau eigentlich schief gelaufen ist. Und dass sie auch erfahren, wer die Entscheidungen getroffen hat, die zu dieser Situation geführt haben. Damit soll niemand an den Pranger gestellt werden. Vielmehr geht es um ein Grundprinzip repräsentativer Demokratie: Die Wählerinnen und Wähler müssen Rechenschaft bekommen, um sich ein Urteil über die Regierenden bilden zu können. Ansonsten wird das Vertrauen in die Institutionen beschädigt. Schon jetzt wird in den sozialen Medien und in der britischen Boulevardpresse über die anonymen „Eurokraten“ und die „EUdSSR“ gelästert. Gerüchte wabern unwidersprochen durch die Landschaft, etwa dass die Kanzlerin 70 Millionen Impfdosen an andere Länder „weggeben“ habe oder dass die EU hunderte Millionen angebotener Impfdosen von Biontech/Pfizer und Moderna ausgeschlagen habe.
Es ist kontraproduktiv und schädlich, sich in dieser Lage in die Wagenburg zurückzuziehen und zu hoffen, dass die Menschen das alles bis zur nächsten Wahl wieder vergessen haben werden. Vielmehr muss persönliche Verantwortung übernommen werden. Das muss in einer solchen Ausnahmesituation, auf die niemand vorbereitet war, gar nicht der Rücktritt sein. Die Medien und die breite Öffentlichkeit in Deutschland und Europa gehen bislang sehr fair mit den politisch Verantwortlichen um. Aber die Wahrheit muss auf den Tisch und zwar die ganze Wahrheit, auch um den Populisten und Verschwörungstheoretikern den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Einsicht ist der beste Weg zur Besserung, sagt der Volksmund. Es muss ganz in diesem Sinne außerdem plausibel erklärt werden, was getan werden kann, um die Impfkampagne, so gut es eben geht, nun doch noch zu beschleunigen. Es ist nicht hilfreich, wenn die Haupterkenntnis der politisch Verantwortlichen nach dem Impfgipfel vom 1. Februar in Ernüchterung besteht. Ernüchtert sind die Menschen auch schon ganz von selbst. Sie möchten nicht auf bessere Zeiten vertröstet werden, sondern sie wollen sehen, dass etwas getan wird – jetzt und auch auf Zukunft hin. Das Vertrauen der Menschen wird nur zurückzugewinnen sein, wenn die Verantwortlichen in Deutschland und der Europäischen Union erklären, welche Lehren sie aus dem Impfdesaster ziehen und welche Vorkehrungen getroffen werden, dass es nie wieder zu einer solchen Situation kommen wird.