Lars Schäfers | 12. Mai 2021
Einkommensungleichheit und Vermögensarmut in Zeiten von Corona
„Wer dem Arbeiter seinen Lohn nicht gibt, der ist ein Bluthund“ (Sir 34,27), heißt es schon im Alten Testament. Die Frage nach dem gerechten Lohn ist der Lackmustest der modernen deutschen Arbeitsgesellschaft. Diese leistet sich seit der Regierung Schröder schließlich einen der größten Niedriglohnsektoren Europas. Die Niedrigeinkommensquote stagniert derzeit bei rund 16 Prozent. Die Ungleichheit der Einkommen ging nach einer Analyse des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin in der Corona-Pandemie nach einer langen Zeit der Stagnation zwar leicht zurück. Das lag allerdings vor allem daran, dass Selbstständige besonders stark von Einkommensverlusten betroffen sind. Viele prekär Beschäftigte leben jedoch in verfestigten Armutslagen, wie die Bundesregierung mit dem jüngsten Armuts- und Reichtumsbericht eingestehen muss.
Die Frage nach Lohngerechtigkeit hat aber nicht nur eine finanzielle Dimension. Nicht weniger wichtig für das Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen ist ein angemessener Lohn als Ausdruck von Anerkennung. Eine dementsprechende Debatte kam bekanntermaßen während der Pandemie in Fahrt, als medizinische Fachkräfte für ihre hoch verantwortungsvolle Arbeit in den Kliniken und Krankenhäusern beklatscht wurden und seither völlig zu Recht gefordert wird, dieser symbolischen auch eine finanzielle Anerkennung folgen zu lassen. Dies hat mithin dem Anliegen eines flächendeckenden Tarifvertrags für die Pflegebeschäftigten Aufwind gegeben. Seit in der Pandemie vermehrt nach der Systemrelevanz einzelner Branchen und Berufe gefragt wird, ist zudem die Frage neu entbrannt, was wirklich „Gute Arbeit“ im Sinne sinnvoller, gemeinwohldienlicher Arbeit ist und was dagegen sogenannte „Bullshitjobs“ ohne erkennbare Sinnhaftigkeit Gesellschaftsrelevanz sind.
Um erneut auf die Bibel zurückzukommen: Lohngerechtigkeit war für die Menschen auch damals schon so zentral, dass ein Vorenthalten des gerechten Lohns zu den himmelschreienden Sünden (vgl. Jak 5,4) gezählt wurde. Dies ist ein Beleg dafür, wie alt die Frage nach gerechter Entlohnung bereits ist und wie sehr diese das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen verschiedenster Zeiten und Kulturen herausfordern kann. Die Bibel jedenfalls ist voll von Beispielen und Geschichten, in denen der gerechte Lohn zum Thema wird – man denke allein an das jesuanische Gleichnis vom Weinberg (Mt 20, 1-12), bei dem der Gutsbesitzer jedem Tagelöhner die gleiche Lohnsumme auszahlt, egal ob er acht oder nur eine Stunde geschuftet hat.
Im 19. Jahrhundert, als in der Zeit der Industrialisierung und des Massenelends der Industriearbeiter die Soziale Frage aufbrach, machte der damalige Papst Leo XIII. ebenfalls das Prinzip der Lohngerechtigkeit stark. Er schrieb in Rerum Novarum, der ersten Sozialenzyklika der Katholischen Kirche: „Wenn also auch immerhin die Vereinbarung zwischen Arbeiter und Arbeitgeber, insbesondere hinsichtlich des Lohnes, beiderseitig frei geschieht, so bleibt dennoch eine Forderung der natürlichen Gerechtigkeit bestehen, die nämlich, daß der Lohn nicht etwa so niedrig sei, daß er einem genügsamen, rechtschaffenen Arbeiter den Lebensunterhalt nicht abwirft“ (Nr. 34). Papst Johannes Paul II. bezeichnete die Lohngerechtigkeit in seiner „Arbeitsenzyklika“ Laborem Exercens sogar als das „Schlüsselproblem der Sozialethik“ (Nr. 19). Die Güter der Erde sollen nach Katholischer Soziallehre im Idealfall allen Menschen zugänglich sein und zugutekommen. Man muss beileibe nicht katholisch sein, um hier mitgehen zu können. Der Arbeitslohn ist derart wichtig, weil er für die meisten Menschen der einzige Weg ist, um am Güterangebot des Marktes teilhaben und ihre materielle Existenz selbstständig sichern zu können.
In ihrem Buch mit dem Titel „Working Class“ geht die Journalistin Julia Friedrichs nicht nur den pandemiebedingten sozialen Verwerfungen nach. Sie nimmt vielmehr auch langfristige Prozesse ins Visier, die dazu geführt haben, dass viele Menschen in Deutschland trotz einer Vollzeittätigkeit kaum von ihrer Arbeit leben können, obwohl sie es müssen, denn 50 Prozent der Menschen in Deutschland haben kein nennenswertes Vermögen: „Die working class sieht anders aus als vor hundert Jahren, aber noch immer gilt: Es sind Menschen, die arbeiten, um Geld zum Leben zu haben. Ganz einfach. Menschen, die keine Unternehmensanteile halten, über keine Mietshäuser verfügen (…) nicht mal Fonds für die Altersvorsorge. Menschen, für die gilt: Nettoeinkommen gleich Monatsbudget ohne Rücklagen-Netz und doppelten Familien-Vermögen-Boden“ (S. 12).
Wie gerecht Deutschland ist, entscheidet sich demnach in hervorgehobener Weise an gerechten Entgelten für Erwerbsarbeit. Es ist nicht nur der Sozialismus, sondern auch die christliche Soziallehre und -ethik betonen, dass die Arbeit des Menschen Wert und Würde hat und daher wichtiger ist als das Kapital. Wer aber vermögensarm oder -los ist, erkennt jedoch ebenso, wie wichtig auch das Kapital im Sinne von Privatvermögen sein kann, wenn es in schweren Zeiten wie der aktuellen Pandemie den (kurz- oder gar nicht mehr) arbeitenden Menschen als Sicherheitspolster fehlt.
Aus sozialethischer Sicht ist also an zwei Stellschrauben zu drehen: Am politischen oder besser: tarifpartnerschaftlichen Einsatz für gerechtere Löhne sowie an der Verbesserung der Möglichkeiten einer Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand, wie es der Soziallehre-Nestor Oswald von Nell-Breuning SJ in seinem sozialethischen Wirken immer wieder betont hat.
Zu ersterem: Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns im Jahr 2015 war notwendig und längst überfällig, um die Menschen vor allzu skandalösen Dumpinglöhnen zu schützen. Es darf jedoch nicht aus dem Blick geraten, dass Lohngerechtigkeit nicht nur das Existenzminimum des Einzelnen als absolute Untergrenze, sondern auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Arbeitgebers als Obergrenze umfassen muss. Gerade in Zeiten der Coronapandemie gibt es Branchen, in denen die Lebensfähigkeit der Unternehmen derzeit das dringendere Problem darstellt, wobei sich dabei auch die arbeitsplatz- und betriebssichernden Wirkungen des Kurzarbeitergeldes abermals deutlich und vielfach bewährt haben.
Es zeigt sich jedenfalls, das Lohngerechtigkeit nicht mehr einfach durch die Nennung fixer Beträge definiert werden kann, da es sich hierbei um eine sehr komplexe Frage handelt, bei der viele Aspekte mitbedacht werden müssen. Konkreten Ungerechtigkeitserfahrungen sollte dabei jedoch hinreichend Rechnung getragen werden, wie etwa das aktuelle sozialethische Arbeitspapier des ICS Münster richtigerweise betont. Der Mindestlohn allein reicht jedenfalls nicht, um das Ideal der Lohngerechtigkeit anzuvisieren. Völlig erreicht werden kann es ohnehin nie, denn jede und jeder Mensch wird eine gerechte Lohnhöhe anders definieren. Trotzdem sollte insbesondere seitens der Arbeitgeber und der Politik immer wieder geschaut werden, wo es unbegründete und korrigierbare Missverhältnisse bezüglich der Einkommenshöhe und -verteilung gibt.
Zum Aspekt der Vermögensbildung: Geringverdienende und weitere Risikogruppen weisen meist kaum oder gar keine Sparfähigkeit auf. Bisherige Formen der Förderung von Vermögensbildung, wie die Arbeitnehmersparzulage oder die Wohnungsbauprämie, reichen jedoch bei weitem nicht, um hier substanzielle Fortschritte zu erreichen. Neben einer deutlichen Stärkung dieser Instrumente ist es wichtig, dass solidarische Modelle kapitalmarktlich basierter Vermögensbildung für möglichst viele Menschen geschaffen werden. Neben der Sicherung in Krisen und bei Arbeitsplatzverlust geht es dabei auch und vor allem um die heute unumgänglich notwendige Zusatzvorsorge für das Alter. Ideen und Konzepte gibt es bereits, sowohl aus der Forschung als auch aus der Politik (Stichwort: Deutschlandrente, Vorsorgekonto etc.). Ob eines davon in der kommenden Legislaturperiode umgesetzt wird, ist noch ungewiss. Wichtig ist bei alledem die primäre Orientierung an denjenigen, die aufgrund niedriger Löhne kaum bis keine Sparfähigkeit besitzen.
Vielleicht gelingt es mittels geeigneter vermögenspolitischer Maßnahmen dann mehr „Nur-Lohnempfänger“ zu Miteigentümern zu machen. Und vielleicht kommen wir in Deutschland dann dem Leitbild einer Teilhabergesellschaft unter der Maxime „Vermögen für alle“ irgendwann näher. Das könnte ein Ziel für die Nachcoronazeit sein. Das aber ist wohl mit Nell-Breuning gesprochen dann ein Fernziel „wie einstmals der 8-Stunden-Tag“. Es ist aber eines, das eine an sozialer Gerechtigkeit im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft orientierte Politik nicht aus den Augen verlieren sollte.
Der Verfasser
Mag. theol. Lars Schäfers ist Wissenschaftlicher Referent der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ) in Mönchengladbach sowie Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Christliche Gesellschaftslehre der Katholisch-Theologischen Fakultät der Bonner Universität und Generalsekretär von Ordo socialis – Wissenschaftliche Vereinigung zur Förderung der Christlichen Gesellschaftslehre.