Wolfgang Kurek | 02. Dezember 2020
Die schwarze Null ist nicht in Stein gemeißelt!
Überlegungen zur Finanzpolitik für die Zeit nach Corona
Die schwarze Null und die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse sind erst einmal suspendiert. Im Zuge der Corona-Pandemie wird der deutsche Staat das Jahr 2020 nach etlichen Jahren Schuldenfreiheit wieder mit einem Haushaltsdefizit abschließen. Schon im Zeitraum von Januar bis Oktober 2020 wies der Bundeshaushalt eine Finanzierungslücke von 89,1 Mrd. €[1] auf, und bei den Ländern gab es bis Ende September 2020 einen Fehlbetrag von durchschnittlich 24 Mrd. €[2]. Ähnlich sieht es im kommenden Jahr aus: Am 27.11.2020 beschloss der Haushaltsausschuss des Bundestages ein Budget, das im Jahre 2021 eine Neuverschuldung des Bundes in Höhe von 179,82 Mrd. € vorsieht.[3]
Dabei ist das Geld gewiss nicht zum Fenster rausgeworfen. Es ist hinlänglich bekannt, dass der Staat damit dem Auftrag des „Sozialen“ in der Marktwirtschaft nachkommt und den Versuch unternimmt, wirtschaftliche und soziale Härten im Kontext der Pandemie abzufedern. Um die medizinische Versorgung von Corona-Patienten sicherzustellen, Arbeitsplatzverluste und Unternehmensinsolvenzen möglichst eng zu begrenzen und die Einkommen privater Haushalte zu stabilisieren, hat die Bundesregierung einen umfangreichen Rettungs- oder Schutzschirm aufgespannt. Dieser umfasst vielfältige temporäre einnahmen- und ausgabenseitige Stützungsmaßnahmen, wie ein Hilfsprogramm zur Sicherung der Liquidität von Unternehmen, Selbständigen und Freiberuflern, Überbrückungshilfen für Kleingewerbetreibende, die Stundung von Ertragssteuern, den vorübergehend erleichterten Zugang zur Grundsicherung, zum Wohngeld oder zum Kurzarbeitergeld und vieles andere mehr.
Die Frage, um die es hier aber geht, ist die nach der Zukunft der schwarzen Zahlen. Soll es nach Überwindung der Pandemie eine konsequente Rückkehr zu einem ausgeglichenen, möglichst mit Überschüssen abschließenden Haushalt geben? Oder ist eine eher pragmatische, situationsbedingte Fiskalpolitik angezeigt? Hier fällt einem ad hoc das etwas naive Bild von der schwäbischen Hausfrau ein, die ebenso wie der Staat nicht dauerhaft „über ihre Verhältnisse“ leben kann. Dies will sagen: Schulden müssen zurückgezahlt werden, und in diesem Licht stimmt es nachdenklich, wenn der Präsident des Bundesrechnungshofes, Kay Scheller, zu der Einschätzung gelangt, dass die in 70 Jahren aufgebaute Bundesschuld durch die Bundeshaushalte 2020 und 2021 um mehr als 30% steigen werde.[4] Hier kommt dann auch die Generationengerechtigkeit ins Spiel, die bei Abkehr von einer restriktiven Haushaltspolitik mehr denn je gefährdet erscheint. Nicht zuletzt sei darauf verwiesen, dass der Staat erst aufgrund der komfortablen Finanzlage am Beginn der Krise über jene fiskalischen Spielräume verfügte, die er in der Pandemie zur Stützung von Wirtschaft und Gesellschaft einsetzen konnte.[5]
So gewichtig die genannte Argumentation auch sein mag, sie taugt eher als ein Plädoyer gegen eine ungezügelte Schuldenpolitik von Bund, Ländern und Kommunen. Eine solche Zügellosigkeit ist jedoch weder gemeint noch intendiert, wenn einem rigorosen Austeritätsparadigma eine sozial verantwortliche Linie gegenübergestellt wird.
Da aus Sicht der christlichen Sozialethik Staat und Politik im Dienst an der Würde des Menschen stehen[6] und deshalb staatliche Instanzen allgemeine Rahmenbedingungen zur Sicherung des Gemeinwohls schaffen, benötigen die entsprechenden Akteure tragfähige Instrumente zur Verwirklichung ihres ordnungspolitischen Auftrags.[7] Dazu gehört zweifelsohne eine solide Haushaltsfinanzierung, die allerdings – und zwar nicht nur im Hinblick auf den Schuldendienst – kein Selbstzweck sein darf. Die Sorge um das Wohl aller Mitglieder Gesellschaft – auch der Schwächsten und Randständigen – verpflichtet den Staat zu einer Politik, die soziale Nöte auffängt und die Teilhabe der Menschen am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt sichert. Eine rigide Haushaltspolitik in künftigen Krisensituationen erscheint daher wenig verantwortbar. Mehr noch: Die Infragestellung einer kompromisslos verfochtenen schwarzen Null in den öffentlichen Budgets wird durch die Herausforderungen der Gegenwart verstärkt. Nachhaltigkeit und Klimaschutz, die öko-soziale Transformation, der digitalisierungsbedingte Wandel und nicht zuletzt die durch die Corona-Krise offenbar gewordene Systemrelevanz des Gesundheitswesens erfordern staatliche Flankierungen zu Gunsten der Benachteiligten und zum Zweck der Gestaltung der entsprechenden Prozesse. Öffentliche Investitionen in Schulen und Bildung, in das Gesundheits- bzw. Sozialsystem, in die Verkehrs- und Breitbandinfrastruktur sowie die Förderung des ökologischen Umbaus von Gesellschaft und Wirtschaft werden sich als notwendig, richtig und gut für das Allgemeinwohl erweisen. Solche Maßnahmen kosten allerdings Geld. Geld, das durch ein gerechteres Steuersystem, gegebenenfalls aber auch durch die Aufnahme neuer Kredite beschafft werden sollte. Eine so ausgerichtete Finanzpolitik wäre zweifelsfrei solide. Sie wäre nicht gegenwartsbezogen, sondern hätte Zukunftswirkung und würde darum auch dem Prinzip der Generationengerechtigkeit Rechnung tragen.
In der Finanzkrise 2008/2009 wurde es weitgehend versäumt, die Zäsur für eine systemische Reorganisation zu nutzen. Wiederholen wir bitte nicht den gleichen Fehler nach Überwindung der Corona-Krise, indem wir an einer falsch verstandenen Sparpolitik festhalten!
[1] Vgl. BMF-Monatsbericht November 2020 – Entwicklung des Bundeshaushalts bis einschließlich Oktober 2020, S. 2 in: https://www.bundesfinanzministerium.de/Monatsberichte/2020/11/Inhalte/Kapitel-4-Wirtschafts-und-Finanzlage/4-3-entwicklung-des-bundeshaushalts.html (abgerufen am 27.11.2020)
[2] Vgl. BMF-Monatsbericht November 2020 Entwicklung der Länderhaushalte bis einschließlich September 2020, S. 1, in: https://www.bundesfinanzministerium.de/Monatsberichte/2020/11/Inhalte/Kapitel-4-Wirtschafts-und-Finanzlage/4-3-entwicklung-des-bundeshaushalts.html (abgerufen am 27.11.20)
[3] Vgl. www.bundestag.de/presse/hib/810198-810198, Stand: 27.11.2020 (abgerufen am 27.11.20)
[4] Vgl. https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/interview-rechnungshof-chef-scheller-die-bundesregierung-bewegt-sich-am-rande-der-verfassung/26593490.html?ticket=ST-4107831-xXmti1TdJtgd4RSmaaGR-ap6 (abgerufen am 01.12.20)
[5] Vgl. Heinz Gebhardt, Lars Siemers: Wirkung der Corona-Krise auf die Staatsfinanzen, S. 2, in:https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2020/heft/6/beitrag/wirkung-der-corona-krise-auf-die-staatsfinanzen.html (abgerufen am 01.12.20)
[6] Vgl. Peter Schallenberg, Grundgesetz und Marktwirtschaft (Kirche und Gesellschaft Nr. 461), Köln 2019, S. 10/11.
[7] Vgl. Nils Goldschmidt/Arnd Küppers, Ordnungsethik der Sozialen Marktwirtschaft. Gesellschaftlicher Frieden und wechselseitige Anerkennung (Kirche und Gesellschaft Nr. 471), Mönchengladbach 2020, 4-6.