Michael Keppel | 13. Juli 2020
Die Corona-Krise – Besonnenheit und Barmherzigkeit
Der Corona-Virus hat auf unser Leben in allen gesellschaftlichen Bereichen einen erheblichen Einfluss genommen. Seine genaue Entstehung ist unklar, ebenso wie seine Verbreitung über die ganze Welt und seinen Verlauf in den verschiedenen Ländern. Es ist unklar, warum die Fallzahlen der mit Corona verbundenen Todesfälle und die Letalitätsraten von Land zu Land so unterschiedlich sind. Auch sind weder die Wirkungszusammenhänge von Corona-Virus und etwaigen Vorerkrankungen noch die eher seltenen Fällen von vor der Infektion gesunden Patienten bei den Todesfällen erklärbar. Wissenschaftler haben zu diesen verschiedenen Themen zur Zeit unterschiedliche Thesen, weil dieser Virus-Verlauf im vollen Gange ist und sich von Tag zu Tag auch in den Regionen unterschiedlich entwickelt. Die Zeit für These, Antithese und Beweis bzw. Widerspruch ist noch zu früh. Die Diagnose und die Entwicklung von Gegenmitteln und nachhaltigen Gegenmaßnahmen wird es erst in der auslaufenden Phase des Virus geben.
Diese Phänomene sind typisch für jede Krise. Eine Krise zeichnet sich eben durch ein hohes Maß an Unsicherheit über Ursachen und Verläufe sowie über die Wirksamkeit von Maßnahmen zu deren Behebung aus. Krisen können nicht abgewartet oder ertragen werden, da sodann die destruktive Wirkung einer Krise unkontrolliert und umfassend sein kann. Vor diesem Hintergrund sind Entscheidungen – als die Vorstufe von Aktionen – notwendig. Diese Entscheidungen werden unter Unsicherheit getroffen, d.h., sie stehen in dem Risiko, dass Entscheidungsparameter nicht richtig eingeschätzt werden und somit geplante Aktionen ihre Wirkung ganz oder teilweise verfehlen. Daher werden auch in jeder Krise falsche Entscheidungen quasi unvermeidbar getroffen. Deshalb ist es wichtig, Entscheidungen so zu treffen, dass deren Folgen – auch die negativen – weitgehend beherrschbar sind – entweder indem man Entscheidungen zeitlich befristet oder sie in ihrem Umfang begrenzt. Wir Menschen neigen auf Krisen entweder aus unserem eigenen oder aus überlieferten Erfahrungswissen zu reagieren. Mit weitgehender Ähnlichkeit der aktuellen Krise zu vergangenen Krisen wird es uns leichter fallen, Krisenverläufe durch richtige Entscheidungen zu antizipieren. Mit zunehmender Einzigartigkeit einer Krise wird das schwieriger. Entscheidungen werden dann eher radikaler getroffen, um das Schlimmste zu verhindern. Sie ähneln einer Notbremsung, vielleicht vergleichbar mit einer Situation, in der man mit einem Auto mit 200 km/h plötzlich eine Nebelwand mit nur fünf Metern Sicht vor sich hat und man eine Vollbremsung macht, um das Schlimmste zu vermeiden. Wenn man jedoch weiß, dass sich in der Nebelbank nichts befindet, wird man eher dosiert runterbremsen, um mit einer adäquaten Geschwindigkeit durch die Nebelbank zu fahren.
Im Fall des Corona-Virus befinden wir uns in einer Situation, die mit der vorgehenden SARS-Virus-Epidemie im Hinblick auf die Entzündungswege wohl nicht vergleichbar ist. Die Corona-Pandemie hat nach jetzigem Kenntnisstand eine gewisse Einzigartigkeit. Daher wird häufig eine Parallele zur Spanischen Grippe gezogen – in Bezug auf die Entwicklung in Städten in den USA mit und ohne Shutdown sowie im Hinblick auf das Erwarten einer zweiten Welle. Ob diese Analogien halten, wissen wir heute nicht. Wir wissen nicht, was in und hinter der Nebelbank ist. Wir wissen nur, dass der Verlauf der Pandemie ohne Gegenmaßnahmen umfassend mit hohen Fallzahlen und vielen Schwerkranken einhergeht. Damit besteht ein Risiko, dass eine invasive Krankenbehandlung durch die zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht vollständig gedeckt werden kann und somit im schlimmsten Fall eine Entscheidung über lebenswerten und nicht-lebenswerten Leben zu treffen wäre. Ob das so kommen wird oder ob die Intensivstationen nur geringfügig ausgelastet sein werden, wissen wir nicht.
Das liegt in der Natur der Krise. Es liegt ebenso in der Natur der Krise, dass wir nach dem Ende einer Krise schlauer sind, weil wir deren Ausgang kennen. Der Fortschritt unserer Menschheit liegt darin, dass wir aus Krisen lernen und dass wir aus den Fehlern lernen. Darin liegt zumindest ein Erkenntnisfortschritt – auf einer intellektuellen Ebene. Der Fortschritt in unserer Herzensbildung liegt darin, wie wir mit den gemachten Fehlern und wie wir mit den Menschen umgehen, die diese Fehler gemacht haben (im Übrigen selten alleine, sondern regelmäßig in Interaktion mit anderen Menschen). Dieser Fortschritt ist noch vielfältiger, da dieser ethische Fragen und Grundregeln des sozialen Lebens in einer Gesellschaft und zwischen Gesellschaften und sogar Kulturen/ Zivilisationen betrifft.
Vor diesem Hintergrund fordert diese Corona-Krise von uns Besonnenheit und Barmherzigkeit. Besonnenheit, weil diese Krisensituation für alle Betroffenen eine Stresssituation bedeutet, in der – vereinfacht gesprochen – die einen Entscheidungen qua Amt treffen müssen und die anderen davon betroffen sind (und somit nicht zwangsläufig mit diesen Entscheidungen übereinstimmen müssen). Manchmal hilft es, sich bewusst in die Schuhe des anderen zu begeben und zu reflektieren, wie man selber in dieser konkreten Situation agieren würde. Auf jeden Fall hilft es, sich bewusst zu machen, dass man selbst nicht alles besser wissen kann als die anderen, da die Informationen begrenzt sind und die Neuartigkeit der Situation die Formulierung von Entscheidungsprämissen erfordert.
Barmherzigkeit, weil wir mit Blick auf unsere eigene Fehlerhaftigkeit und Begrenztheit das Verhalten und die Entscheidung des anderen in seiner Fehlerhaftigkeit und Begrenztheit akzeptieren sollten. Dies gilt vor allem in der Krise, da wir nur gemeinsam durch die Krise kommen. Eine Lähmung von Entscheidungsprozessen durch destruktive Diskussionen und Widerstand (in gewissen Grenzen) in der Krise kann nur zu einer Verschlimmerung der Krise führen. Daher muss man auch als Betroffener mal die bekannte Faust in der Tasche machen. Das Aufräumen, die Diagnose und Aufdeckung von fehlerhaften Entscheidungen kann aus besagten Gründen mit dem Ziel des gemeinsamen Erkenntnisfortschritts nur in der Rückschau gelingen. Auch hier gilt die Barmherzigkeit als notwendige Voraussetzung, da man auch diejenigen, die Fehler gemacht oder zur verantworten haben, im Dienst der Wahrheit in ihrer ganzen Menschenwürde stellen möchte, d.h. denjenigen eine Brücke zu bauen, dass sie an der Fehlersuche – auch der eigenen – sich aktiv beteiligen können, ohne davon sich der persönlichen Anschuldigung ausgesetzt fühlen müssen. Ansonsten wird der Erkenntnisfortschritt zur Wahrheit begrenzt.
Der Führung kommt daher in dieser Krisensituation eine besondere Verantwortung zu. In einer Krisensituation ist es stets angeraten, Experten für die verschiedenen Themen der Krise – in der Corona-Krise z.B. Virologen, aber auch auf das Management und die Kommunikation in der Krise spezialisierte Fachleute – hinzuziehen sowie weitere Entscheidungsträger und Bezugsgruppenvertreter bei der Entscheidungsfindung zu integrieren. Diese Notwendigkeit liegt in der besonderen Ausprägung der Krise im Vergleich zu einer normalen Situation, insbesondere wenn die Krise einzigartig und mit vorangegangenen Krisen nicht vergleichbar ist. Typischerweise wird eine solche Situation als dynamisch und komplex bezeichnet. Sie ist komplex, da verschiedene Einflussfaktoren bestehen, die sich in einer unklaren Form zusammensetzen und zusammenwirken. Sie ist dynamisch, da sich diese Zusammensetzung und Zusammenwirken schnell verändert. Je dynamischer und komplexer ein Sachverhalt ist, um so kleiner werden einzelne Teams gebildet, die sich mit den strukturierten und segmentierten Teilbereichen des gesamten Themen-Komplexes auseinandersetzen müssen. Damit einher geht eine höhere Koordinationsleistung der Führung in einer solchen Krise, da die Teilerkenntnisse und -ergebnisse zu einem Gesamtbild zusammengeführt werden müssen und umgekehrt Maßnahmen zur Krisenbewältigung koordiniert von den Teileinheiten in den Teilbereichen umgesetzt werden müssen.
In der Corona-Krise bedeutet dies, dass nicht nur Virologen beim Krisenmanagement hinzuziehen sind, sondern auch Teilteams für die verschiedenen betroffenen gesellschaftlichen Bereiche, z.B. für die wirtschaftlichen, schulischen, länderbezogenen, kommunalen Bereiche, zu bilden sind. Um die Koordination einer recht großen Gruppe zu gewährleisten sind die Teil-Team-Leiter in einem übergeordneten Krisenstab zu integrieren. Hier findet die eigentliche Koordination der verschiedenen Aktivitäten und somit auch die Führung in der Krise statt. Dabei geht die Führung nicht alleine von der Leitung des Krisenstabs aus, hier in der Corona-Krise die Bundeskanzlerin, sondern vollzieht sich in den Teilteams und deren mögliche Untergliederungen durch die jeweiligen Teamleiter. Die Führung in der Krise hat nicht nur die Koordination der Teams sicherzustellen, sondern auch die Entscheidung über Maßnahmen. Diese Entscheidungen sollten trotz des durch die Dynamik der Krise bedingten Zeitdrucks und trotz der inhärenten Unsicherheit weitgehend reflektiert und fundiert getroffen werden. Eben dazu dient ein umfangreiches Gremium wie der Krisenstab. Damit jedoch auch eine weitgehend hohe Entscheidungsqualität im Sinne einer bestmöglichen Entscheidung unter den bekannten und bestmöglich definierten Entscheidungsprämissen möglich wird, ist die umfassende Kompetenz und Offenheit der Teilnehmer notwendig. Kompetenz kann ggf. durch die Integration verschiedener Teilnehmer unterschiedlicher Disziplinen erreicht werden; Offenheit ist im Wesentlichen das Ergebnis einer Führungskultur. Die Offenheit der Teilnehmer in den unterschiedlichen Entscheidungskreisen und Teams wird nicht nur durch ihren Mut bestimmt auch unbequeme bzw. streitbare Erkenntnisse und Einschätzungen auszusprechen, sondern auch durch die Bereitschaft sämtlicher Teilnehmer solche Inhalte auch vorurteilsfrei anzunehmen und in einem Diskurs, der nicht die Person der Teilnehmer betrifft, der kontroversen Betrachtung zuzuführen. Diese Bereitschaft ist durch Führung zu erzeugen. Auch hierin zeigt sich die Wichtigkeit der oben ausgeführten Besonnenheit und Barmherzigkeit. Die Führung in der Krise hat hierbei eine wesentliche Vorbildfunktion wie mit der Krise umgegangen wird und wie auch mit den Menschen in der Krise umgegangen wird.
Der Verfasser
Michael F. Keppel ist ein unabhängiger Transformations- und Krisenmanager und seit 1992 im Krisenmanagement tätig. Michael studierte Betriebswirtschaft in Freiburg und in Köln. Er hat einen Abschluss als Diplom-Kaufmann (1991) und Dr.rer.pol (1996), beide von der Universität zu Köln. Im Jahr 2011 besuchte er das AMP-Programm an der IESE Business School, Barcelona und nahm an Weiterbildungsseminaren der IESE Business School und Harvard Business School teil.
Er ist Professor (Lecturer) für Krisenmanagement an der IESE Business School, Barcelona/ München und außerordentlicher Professor für Krisenmanagement im Rahmen des Programms School of Church an der Päpstliche Universität Santa Croce, Vatikan/ Rom.
Er übernimmt leitende Management-Funktionen als Chief Restructuring Officer (CRO), Aufsichtsratsvorsitzender, aktiver Vorsitzender und Treuhänder in außergerichtlichen Restrukturierungsfällen und in Insolvenzen. Er ist Gründer und geschäftsführender Gesellschafter der Keppel Managementpartners GmbH, Frankfurt. Bis 2008 bzw. vor seiner Selbständigkeit war Michael Keppel als Partner und Geschäftsführer von AlixPartner und Alvarez & Marsal, London/ Frankfurt sowie als Senior Principal bei Droege & Comp in der Restrukturierungseinheit tätig. Davor war er persönlich haftender Gesellschafter der Keppel-Gruppe, Krefeld, dem eigenen Familienunternehmen in 3. Generation im Medieneinzel- und -großhandel. Er begann seine berufliche Laufbahn bei KPMG, wo er zuletzt Leiter der Corporate Recovery Unit und Mitglied des Center of Competence Restructuring war.
Gegenwärtig ist er CRO der Eisenmann SE, Böblingen, wo er zudem die COVID19-Task Force mitleitet. Darüber hinaus ist er Mitglied des Aufsichtsrates der Semper Idem Underberg AG, Rheinberg, und Vorstand des Special Purpose Vehicle Atlantik S.A., Luxemburg (ehemals mit dem Zweck als Holdinggesellschaft der Pfleiderer-Gruppe für Banken und Hedge Funds). Er ist Mitglied des Aufsichtsrates des Deutschen Orden, Weyarn/ Deutschland. In der Vergangenheit war er Vorsitzender des Aufsichtsrates der Kathrein SE, Rosenheim/Deutschland und Stellvertretener Aufsichtsratsvorsitzender der Pfleiderer Group S.A., Breslau/Polen sowie Vorsitzender des Aufsichtsrates sowie des Gesellschafterausschusses der Pfleiderer GmbH, Neumarkt/Deutschland. In der Vergangenheit war er unter anderem für die IVG AG, MAG GmbH, die TEMMELR-Gruppe, PHOENIX Pharmahandel GmbH & Co.KG, die Drogeriemarktkette Ihr Platz GmbH & Co KG und SecurLog GmbH als Aufsichtsrat bzw. CRO in der Sanierung tätig.
Seine Leistungen wurden von Handelsblatt (2016, Pfleiderer), Börsenzeitung (2011, PHOENIX), TMA (2005, Ihr Platz) und Axel Springer Verlag AG (1996, Medienverkaufskonzept) ausgezeichnet.
Michael Keppel ist verheiratet, Vater von vier Kindern und lebt in Bad Homburg v.d.H.
E-Mail: mfkeppel@keppel-management.com und mkeppel@iese.edu