Kardinal Peter Turkson | 29. November 2020
Corona und eine globale solidarische Liebesethik
Wie eine konvex geformte Linse führt die Coronakrise verschiedene – ursprünglich nur lose zusammenhängende – gesellschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Ansätze auf bislang nicht vorstellbare Weise zusammen. Insbesondere gilt dies für die durch Covid-19 hervorgerufenen weitreichenden Veränderungen im menschlichen Zusammenleben: Der Bedarf nach bestmöglicher Gesundheitsversorgung und optimaler Überlebenssicherung wird zur vorrangigen Priorität, die Diskussion über das globale Gemeinwohl wurde zu neuem Leben erweckt. Die Coronapandemie führt uns also vor Augen, wie wichtig ein neues Verständnis von globaler Solidarität und Fürsorge für alle Menschen auf der Erde ist. Es stellt sich die Frage nach Verantwortung und Zuständigkeiten. Welche Akteure in der Gesellschaft sind am ehesten in der Lage, eine „globale Solidarität“ – je nachdem, wie man sie definieren mag – zu gewährleisten?
Zweifellos stellt der Ausbruch der Coronakrise die massivste Umwälzung im Leben und in der Geschichte der Menschheit seit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs dar. Dies ist vor allem auf zwei Faktoren zurückzuführen:
Erstens beschleunigt eine neue, weltweite Globalisierung in Wirtschaft und Tourismus die Ausbreitung einer vormals lokal oder regional begrenzten Epidemie. Ähnlich verhielt es sich bereits in der Vergangenheit mit der verheerenden Spanischen Grippe, die von 1918 bis 1920 wütete. Sie erhielt ihren Namen dadurch, dass spanische Zeitungen als erste über den Ausbruch der Krankheit berichteten – Spanien war während des Ersten Weltkriegs neutral. Bald traten auch in den USA die ersten Fälle der Spanischen Grippe auf, die sich wie ein Lauffeuer weltweit verbreitete. Rund 50 Millionen Menschen verloren ihr Leben – mehr als während des gesamten Ersten Weltkriegs. Gleichsam entwickelte sich eine im Herbst 2019 zunächst auf China beschränkte Gesundheitskrise innerhalb von nur sechs Monaten zu einer Pandemie, die weltweit aggressiv in alle Bereiche des menschlichen Lebens vordrang.
Zweitens fällt die gegenwärtige Pandemie mit der Medikalisierung der westlichen Industriegesellschaft sowie mit dem modernen Kapitalismus zusammen, der sich seit Adam Smith (1723–1790) herausgebildet hat und die Gegenwart entscheidend prägt. Vor diesem Hintergrund stellt sich insbesondere die Frage nach den Kosten und der Ökonomie des Gesundheitswesens im Umgang mit Covid-19.
Von Anfang an wurde die Coronapandemie in den Medien vorwiegend mit militärischem Vokabular behandelt: Der Ausbruch der Pandemie fordere Opfer, die Pandemie sei ein Staatsfeind, der mithilfe eines strategischen Plans bekämpft werden müsse. Die Coronakrise hat die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf einen bislang nie da gewesenen Konflikt der Abwägungen und Folgenabschätzungen gelenkt. Dieser betrifft unter anderem die konkrete und realistische Einschätzung der Ressourcenknappheit im Gesundheitssektor: in der Krankenhauspflege, auf der Intensivstation sowie im Hinblick auf die medizinische Vorgeschichte der Patienten und ihre Genesungsprognosen. Letztlich ist mit der Pandemie eine Situation entstanden, in der Ärzte über das Recht und die Freiheit ihrer Patienten zu leben und zu überleben entscheiden müssen. Die Einschätzung des Gesundheitszustandes und der Überlebenschancen der über 60-jährigen Patienten ist ein weiterer Aspekt dieser dramatischen Situation, in der jüngere Menschen bevorzugt werden, da sie ein geringeres Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs und ein größeres Potenzial haben, wirtschaftlichen Interessen zu dienen, insbesondere denen der kleinen und mittleren Unternehmen und des Handwerks.
Vor dem Hintergrund der dramatischen Szenen und herausfordernden Situationen in den Gesundheitseinrichtungen stellt sich die Frage nach Sinn, Umfang und Ausmaß der staatlichen Eingriffe in bürgerliche Rechte, die zur Aufrechterhaltung des öffentlichen Gesundheitswesens und der Gesundheitsversorgung stattfinden. Hier stehen offensichtlich konträre Freiheitsrechte in direkter Konkurrenz zueinander, wie etwa das Recht auf Gesundheit und das Recht auf Freizügigkeit (Urlaubsreisen unternehmen oder ganz Alltägliches wie den Hund ausführen) sowie das Recht, einen Beruf auszuüben und das eigene Einkommen zu erwirtschaften. Die aufgeklärte Moderne stellt die Macht des Staates in den Dienst des Einzelnen, des Menschen und seines Strebens nach Glück.
Dieses Prinzip ist unter anderem in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten enthalten: „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: daß alle Menschen gleich geschaffen sind; daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; daß dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; daß zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingerichtet werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten.“
Eine solche im Dienste der Person (als Individuum und als soziales Wesen) ausgeübte Staatsgewalt ist nach moderner Auslegung immer demokratisch geregelt und kanalisiert. Dies bedeutet, dass jeder zwar jedem jede Frage stellen darf, dass jedoch die alles entscheidende Frage hiervon ausgenommen ist: „Wozu gebrauchst du die Freiheit eigentlich? Wozu bist du im Leben?“ Diese Frage ist ein buchstäbliches Tabu. Sie zu beantworten, gilt als geradezu sakrosankt, obwohl sie nach dem heiligen Augustinus (De civitate Dei) die Grundlage jeder menschlichen Gesellschaft seit Kain und Abel ist. Die Frage liegt jedwedem Gebrauch und jedweder Ausübung der menschlichen Freiheit zugrunde – und somit auch ihrer Daseinsberechtigung und ihrer Zweckbestimmung.
Dementsprechend entlarvt die Unmöglichkeit, Unfähigkeit oder die Irrelevanz, diese Frage auch nur zu stellen, entweder die Sinnlosigkeit der Verankerung von Menschenwürde und Freiheit im Staat, oder aber die Verfassung gibt eine Antwort darauf, wie in Deutschland: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (Artikel 1 des Grundgesetzes). Dies bekräftigt das Volk „im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Ein Kommentar von Charles Taylor zu diesem Artikel führt aus: „Ich halte diesen Satz für zentral, weil er den Geist des Grundgesetzes und damit der Bundesrepublik Deutschland prägt. Zugleich geht er weit über jeden Gesetzestext hinaus; er bildet die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben im Allgemeinen, in anderen Teilen der Welt wie auch hier.“ Als wichtigste Voraussetzung für Frieden und das friedliche Zusammenleben kann und muss natürlich absolut jedes Thema insbesondere in säkularen Gesellschaften auf republikanische und demokratische Weise sowie auf der Grundlage der unbedingten Menschen- würde hinterfragt, hinterfragt und diskutiert werden! Soziologisch und wirtschaftlich wird nach der Coronapandemie nichts mehr so sein wie vorher, wann auch immer diese Zeit kommen mag. Papst Franziskus äußert in diesem Zusammenhang die Überzeugung, niemand gehe aus einer Krise unverändert heraus. Eine Krise bringt Herausforderungen mit sich; aber sie birgt auch Chancen! Aus diesem Grund kam bereits Papst Benedikt XVI. in seiner Reflexion über die Finanzkrise seiner Zeit zu dem Schluss: „Diese stellt uns unaufschiebbar vor Entscheidungen, die zunehmend die Bestimmung des Menschen selbst betreffen …“ Er beobachtete weiter: „Die Kompliziertheit und Schwere der augenblicklichen wirtschaftlichen Krise besorgt uns zu Recht, doch müssen wir mit Realismus, Vertrauen und Hoffnung die neuen Verantwortungen übernehmen, zu denen uns das Szenario einer Welt ruft, die einer tiefgreifenden kulturellen Erneuerung und der Wiederentdeckung von Grundwerten bedarf, auf denen eine bessere Zukunft aufzubauen ist. Die Krise verpflichtet uns, unseren Weg neu zu planen, uns neue Regeln zu geben und neue Einsatzformen zu finden, auf positive Erfahrungen zuzusteuern und die negativen zu verwerfen. So wird die Krise Anlaß zu Unterscheidung und neuer Planung. In dieser eher zuversichtlichen als resignierten Grundhaltung müssen die Schwierigkeiten des gegenwärtigen Augenblicks in Angriff genommen werden.“
Als Anlass zur Unterscheidung schickt uns die Covid-19-Krise nicht nur auf die Suche nach dem Ausgleich konkurrierender Freiheitsrechte zur Förderung der Würde aller Menschen im Rahmen eines auf Inklusion gerichteten Gemeinwohls, sondern lässt uns auch die Aufgabe des Staates in den Blick nehmen, das Gemeinwohl in einer Krisensituation wie der gegenwärtigen Pandemie zu gewährleisten und zu fördern.
Es ist an der Zeit, Heinz Budes Verständnis von Solidarität erneut zu betrachten, das den Staat in einer Situation wie der gegenwärtigen Pandemie dazu auffordert, Solidarität zum Wohle aller Schutzbedürftigen in der Gesellschaft zu organisieren und zukünftig deutlich mehr Freiheit und Schutz füreinander zu bieten. Ohne Zweifel hat die Corona- Krise in einer sozialen Marktwirtschaft wie der deutschen das Eintreten dieser Zukunft beschleunigt und ein neues Verständnis von staatlicher und marktwirtschaftlicher Solidarität in einem wünschenswerten Tempo geformt.
Der Staat wird neue Kraft gewinnen müssen, um individuelle Freiheiten und Freiheits- gewinne zu ordnen und Gewinne und Vermögen für das Gemeinwohl einzusetzen. Dies geschieht nicht zuletzt zugunsten eines effizienten und wirksamen Klimaschutzes, aber auch zum Schutz ganz neuer gefährdeter Risikogruppen in einer solidarischen Gesellschaft, in der der Einzelne sich dem anderen gegenüber als Mensch moralisch verpflichtet fühlt. Diese moralische Pflicht gilt im Gesundheits- und Pflegebereich, insbesondere im Hinblick auf die angemessene Entlohnung der in der Pflege tätigen Menschen und ihren Schutz angesichts erhöhter Gesundheitsrisiken, aber auch im Bereich der Globalisierung, der Investitionen, der Beschäftigung, der ganzheitlichen menschlichen Entwicklung und der finanziellen Risikoabsicherung, die in Zeiten einer Pandemie ohne staatlichen Schutz gar nicht möglich wäre. Dies ergänzt die soziale Marktwirtschaft um eine neue globale Facette, nämlich die der präventiven und vorausschauenden Solidarität sozialer und politischer Akteure, die sich ihrer eigenen Verwundbarkeit und damit der notwendigen Solidarität aller Menschen klar bewusst sind. Diese erneuerte, vertiefte Solidarität nennen wir solidarische Nächstenliebe oder, nach der neuen Enzyklika Fratelli tutti, geschwisterliche Liebe.
Zitierte Literatur
- Spinney, Laura (2018): 1918 – Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte. München.
- Conrad, Peter (2007): The Medicalization of Society: On the Transformation of Human Conditions into Treatable Disorders. Baltimore.
- Dreier, Horst (2018): Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne. München, 171–188.
- Taylor, Charles (2007): A Secular Age. Cambridge / Massachusetts; vgl. Lebrun, David (2017): „La sécularisation selon Charles Taylor.“ In: Van Reeth, Jan und Pottier, Bernard (Hg.): Secularisation & Europe. ‘s-Hertogenbosch, 93–100 (eigene Übersetzung aus dem Deutschen).
- Caritas in veritate, http://www.vatican.va/content/benedict-xvi/de/encyclicals/documents/hf_ben-xvi_enc_20090629_caritas-in-veritate.html (Stand: 25.11.2020)
- Bude, Heinz (2019): Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee. München.
- Franco, Giuseppe (2018): Von Salamanca nach Freiburg: Joseph Höffner und die soziale Marktwirtschaft. Vatikanstadt.
Erstveröffentlichung in: Ethik und Militär 2/2020
Der Verfasser
Kardinal Peter Kodwo Appiah Turkson ist Präfekt des Dikasteriums für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen und emeritierter Erzbischof von Cape Coast (Ghana). Im September 2013 wurde er von Papst Franziskus im Amt des Präsidenten des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden bestätigt und 2016 als erster Präfekt des neu geschaffenen Dikasteriums für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen ernannt. Er trägt die Verantwortung für die im März 2020 von Papst Franziskus beim Dikasterium eingerichtete Kommission zu den Folgen von Covid-19. Papst Johannes Paul II. ernannte ihn 2003 zum Kardinal.