Georg Rüter | 30. April 2021
Corona und die Lehren der vergangenen Wochen
Als am 24. März 2021 Bundeskanzlerin Angela Merkel vor die Presse trat und die gesamte Verantwortung für die Entscheidungen der vorletzten Nacht übernahm, war bereits ausreichend viel Häme über die politisch Verantwortlichen in Berlin und den 16 Bundesländern ausgekippt worden.
In der Tat hatten die rechtlich wackeligen Beschlüsse der nächtlichen Konferenz bei Bürgern, Arbeitnehmern und Unternehmen extrem viel Verunsicherung, Verärgerung und schlichtweg zusätzliche überflüssige Arbeit beschert.
Diese verständliche Verärgerung ist kurzfristig unbedingt nachvollziehbar; mittel- und langfristig sollten wir aber durchaus auch die fruchtbaren Hinweise aus dem vermeintlichen Nachtdebakel ziehen:
- Ersetzen Videokonferenzen ohne räumliche und persönliche Bindung tatsächlich die inhaltliche und menschliche Qualität von Konferenzen, in denen man nicht nur flache Bildschirme, sondern lebendige Menschen treffen, sprechen, ja spüren kann? Und ist die Nacht wirklich die richtige Zeit für die Beurteilung komplexer Sachverhalte?
- Haben wir nicht profunde Indizien für Zweifel an der umfassenden Kompetenz von Regierungsorganen erhalten? Der in jüngster Zeit so populäre und von den meisten Parteien ebenso populär bediente Ruf nach staatlichem Handeln, schneller finanzieller Unterstützung, am besten auf zentraler Bundesebene, hat doch eine sehr brüchige Grundlage, wenn man einmal die Sachkompetenz der handelnden Personen beleuchtet. Offenkundig war den nächtlichen Akteuren nicht einmal ansatzweise die Komplexität vorösterlicher Anstrengungen in Landwirtschaft, Industrie und Handel bekannt. Denn traumwandlerisch hatte man wohl angenommen, dass die auf sechs erhöhte Zahl von Osterfeiertagen mal eben in drei statt vier Arbeitstagen vorbereitet werden können. 50 % mehr Feiertage bei 25 % weniger Arbeitstagen – solche Träume kann man pflegen, wenn man von Sachkenntnis wunderbar unbelastet ist.
- Eine solche Annahme wird sicherlich am leichtesten fundiert, wenn man in den hypermodernen Formeln von Digitalisierung und Homeoffice unterwegs ist. Von diesem Platz aus kann man – natürlich eine große Wohnung vorausgesetzt – recht entspannt noch härtere Lockdowns postulieren; Kurzarbeit kommt ja zumindest mit ihren finanziellen Konsequenzen nicht im heimischen Arbeitszimmer an. Die infektiologisch perfekte Isolierung kann ja auch eine ganze Zeit lang funktionieren, wenn per Mausklick Waren geordert werden können, die von unter dem Radarschirm von Tarifverträgen durch Flexfahrer großer Versandhäuser auch noch zur späten Stunde vor die Wohnungstür gelegt werden. Diese emsigen Gesellen bekommen in ihrem Dienstleistungseifer ja nicht einmal mit, dass sie ihren mit hoher Kfz Steuer belegten Golf III TDI durch ein großzügig gefördertes Lastenrad substituieren könnten. Ein solches formidables Gefährt würde die Abgas- und Lärmemissionen in den begrünten Wohngegenden spürbar senken und für den Besteller gänzlich ungetrübte Geräusch- und Gedankenlosigkeit sicherstellen.
- Wenn Vertreter von Nachwuchsorganisationen mittlerweile groß oder klein gewordener Parteien vollmundig erklären, dass der überwiegende Teil der Produktion durch Roboter erfolge, so kann man das sicher gerührt nachsichtig als spätjuvenile kindliche Naivität einordnen; zumal diese aus biographischen Gründen wenig Gelegenheit und vor allem keinen Zwang hatten, in die Niederungen der gewerblichen Arbeitswelt einzutauchen. Doch Verantwortung sollte diesen Zeitgenossen nur sehr vorsichtig übertragen werden.
- Dringend gewarnt werden muss auch vor jenen Ratgebern, die endlich die Wirtschaft in einen noch schärferen Lockdown bringen wollen, indem „nur das wirklich Notwendige“ produziert resp. bereitgestellt werden darf. Nehmen diese in ähnlich kindlicher Naivität ernsthaft an, dass die Öffnung eines Supermarktes nur mit den dort sichtbaren Menschen realisiert werden kann? Die im immer aufdringlicher vom Gesetzgeber verordneten Homeoffice sorgfältig gepflegte Unkenntnis komplexer industrieller und logistischer Arbeitsteilung befördert eine schwer zu ertragende Arroganz, die von den nicht beachteten im analogen Bereich millionenfach Tätigen mit schmerzhaft erlebter Nichtwertschätzung geschluckt werden muss.
- Vor einem solchen Hintergrund weitgehender Nichtkenntnis oder -beachtung der still und diszipliniert tätiger Arbeitnehmer und Unternehmer kann es kaum noch verwundern, dass Vorschläge für die Gewährung eines bedingungslosen Grundeinkommens einsickern. Diese kommen zunächst daher als sozialpolitische Wohltat mittels Aufhebung von Sanktionen für beharrlich arbeitsunwillige Zeitgenossen und steigern sich dann im politischen Überbietungswettbewerb in immer höhere Eurobeträge bei gleichzeitigem Wegfall der Bedürftigkeitsprüfung.
- Die Frage nach der Finanzierung solch üppiger großzügiger Allgemeinzusagen eines sorgen- und arbeitsfreien Lebens wird von denselben politischen Befürwortern beantwortet mit dem Hinweis auf gigantische unentdeckte Steuerhinterziehungen, die aktuell nur vorübergehend aufgrund der coronabedingten Aussetzung der Kassenbonpflicht beim Brötchenkauf sowie der seit sechs Monaten vollständigen Schließung sämtlicher Gastronomiebetriebe unentdeckt geblieben seien.
- Aus dem Gastgewerbe hatte man wohl noch die auf den bekannten Türschildchen zu findende Diktion Ruhetag in Erinnerung, mit dem der Gründonnerstag nicht nur mit einem Abend(mahl)gastronomieverbot belegt werden sollte. Diese Kleinigkeit warf ein Schlaglicht auf die Solidität der den nächtlichen Beschlüssen zugrundeliegenden Wissensbasis.
Seien wir den Akteuren dankbar für diese sie sehr ermüdende, für die Bundesrepublik Deutschland vielleicht aufweckende lange Sitzungsnacht!
Der Verfasser
Dr. Georg Rüter ist Geschäftsführer der Katholischen Hospitalvereinigung Ostwestfalen gem. GmbH in Bielefeld.