Peter Schallenberg | 04. November 2020
Corona und die Ethik der solidarischen Nächstenliebe
Eine Krise bündelt Perspektiven und Probleme. Die Corona-Krise schärft den Blick in einer vorher nie da gewesenen Weise auf verschiedene Arten von Güterabwägungen und Folgenabschätzungen. Dazu zählt die konkrete Abwägung von knappen Ressourcen im Gesundheitswesen und in der Krankenhausversorgung, auch in der Intensivmedizin im Blick auf unterschiedliche Patientenbiographien und unterschiedliche Genesungsprognosen: Wer hat ein Recht auf unbedingte Förderung seiner Freiheit zum Leben und zum Überleben? Dazu zählt freilich auch die Abwägung der Gesundheitsinteressen und der Überlebenschancen insbesondere der über sechzig Jahre alten Bürgerinnen und Bürger gegenüber den Interessen der weniger vom Risiko der Viruserkrankung betroffenen jüngeren Menschen wie auch der Interessen der Wirtschaft, zumal des Mittelstandes und des Handwerks. Dahinter stehen letztlich auch Fragen nach dem Sinn, der Reichweite und der Dauer von staatlichen Eingriffen in individuelle Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger, die im Namen der Aufrechterhaltung einer öffentlichen Gesundheit und der Krankenversorgung geschehen und durchgesetzt werden.
Hier konkurrieren unmittelbar verschiedene Freiheitsrechte, etwa das Recht auf Gesundheit und das Recht auf Bewegungsfreiheit, aber auch, verbunden damit, das Recht auf Berufsausübung und den Erwerb von Lebensunterhalt. Staatliche Macht steht nach aufgeklärter moderner Auffassung im Dienst des Individuums, der menschlichen Person und ihrem „pursuit of happiness“, wie das die amerikanische Unabhängigkeitserklärung formuliert. Solche staatliche Macht im Dienst an der Person ist nach moderner Lesart immer demokratisch reglementiert und kanalisiert, und das meint: Jeder darf jedem eine Frage stellen, außer der alles entscheidenden Frage „Wozu braucht es Dich eigentlich?“ Diese Frage ist buchstäblich tabu und der Befragte sakrosankt. Diese Frage darf nicht gestellt werden in republikanischen Staatswesen, weil sie die zweckfreie Menschenwürde antastet, und sie muss auch nicht gestellt werden, weil sie bereits durch die Verfassung – im deutschen Fall durch das Grundgesetz Artikel 1 mit der „nominatio Dei“, der Benennung Gottes – beantwortet ist. Auf dieser Grundlage freilich darf und muss dann alles republikanisch und demokratisch befragt und hinterfragt und diskutiert werden.
Soziologisch und ökonomisch betrachtet, wird nach der Corona-Pandemie in der Tat nichts mehr sein wie vorher. Anders und schärfer gesagt: Das endgültige Ende des vielleicht allzu oft auch zu Unrecht viel geschmähten Neoliberalismus ist unwiderruflich gekommen, jedenfalls sofern unter Neoliberalismus eine Spielart des angelsächsischen Kapitalismus ohne ordnungsethisches Adjektiv verstanden wird, die in der Tradition eines Adam Smith von der Verfolgung individueller Interessen der Akteure im Markt und einer unsichtbaren Hand des Marktes ausgeht. Individuelle Freiheiten fügen sich leider nicht durch eine solche unsichtbare Hand zum Gemeinwohl aller, insbesondere der schwächeren und benachteiligten Akteure in Wirtschaft und Gesellschaft, zusammen. Der Soziologe Heinz Bude hat mehrfach auf ein neues Verständnis von Solidarität in diesem Zusammenhang hingewiesen, auf eine gesellschaftliche Staatsbedürftigkeit zur Organisation dieser Solidarität zugunsten der verwundbaren Mitglieder der Gesellschaft, und dass Solidarität in der Zukunft sehr viel mehr Freiheit und Schutz miteinander vermitteln wird. Die Corona-Krise hat diese Zukunft und ein neues solidarisches Verständnis von Staat und Markt wünschenswert rasant beschleunigt. Der Staat wird neue Stärke gewinnen müssen zur Ordnung individueller Freiheiten und Freiheitsgewinne, zur Verpflichtung von Gewinnen und Vermögen zugunsten des Gemeinwohls, nicht zuletzt zugunsten eines effizienten und effektiven Klimaschutzes, zum Ausgleich durchaus disparater Interessen und nicht zuletzt zum Schutz ganz neuer gefährdeter Risikogruppen einer Gesellschaft von solidarisch lebenden Individuen, die sich als Personen, also als einander moralisch verpflichtet verstehen. Das gilt zunehmend mehr im Feld der Gesundheit und der Pflege, nicht zuletzt im Blick auf eine adäquate Bezahlung der in der Pflege tätigen Menschen und der Absicherung ihrer erhöhten gesundheitlichen Risiken, aber auch im Feld der Investitionen und der Erwerbstätigkeit und deren finanzielle Risikoabsicherung, die in Zeiten einer Pandemie ohne staatliche Absicherung überhaupt nicht möglich wäre. Und dies entfaltet eine neue Facette der Sozialen Marktwirtschaft in Richtung einer präventiv tätigen und vorausschauenden Solidarität gesellschaftlicher Akteure, die um die eigene Verwundbarkeit und damit um die notwendige Solidarität aller deutlich wissen.
Staatliche Macht und die individuelle Freiheit zu Grundrechten kommen dann in eine Balance, wenn nach den wesentlichen Inhalten des staatlich organisierten Zusammenlebens gefragt wird, auch und gerade in Zeiten von Corona und Pandemie. Die Versuchung zur Praxeologie, also zum bloß effektiven und effizienten Verfolgen von technisch machbaren Zielen ist groß. Wir können viel, ob wir es auch sollen, ist damit noch nicht beantwortet. Und auch die Frage nach der Reihenfolge der Güter und deren Verwirklichung, also die Frage nach Kriterien für eine ethische „triage“ ist noch längst nicht beantwortet. Daher gilt es die Frage nach dem wirklich Guten jenseits des bloß Machbaren wachzuhalten. Christlich gesprochen: „Wo die Inhalte nicht mehr zählen, wo die reine Praxeologie die Herrschaft übernimmt, wird das Können zum obersten Kriterium. Das aber bedeutet: Die Macht wird zur alles beherrschenden Kategorie – revolutionär oder reaktionär. Dies ist genau die perverse Form von Gottähnlichkeit, von der die Sündenfallgeschichte spricht: Der Weg des bloßen Könnens, der Weg der reinen Macht ist Nachahmung eines Götzen und nicht Vollzug der Gottebenbildlichkeit. Das Kennzeichen des Menschen als Menschen ist es, daß er nicht nach dem Können, sondern nach dem Sollen fragt, und daß er sich der Stimme der Wahrheit und ihres Anspruchs öffnet“ (Joseph Ratzinger: Wahrheit, Werte, Macht. Prüfsteine der pluralistischen Gesellschaft, Freiburg/Br. 1993, 48).