Ursula Nothelle-Wildfeuer | 27. April 2021
Corona-Pandemie und Impfstrategie
Ein stillschweigender Solidaritätspakt
Die Debatte um die Corona-Impfungen beherrscht aktuell die gesellschaftliche Öffentlichkeit. Zwar war das Tempo atemberaubend, in dem mehrere hochwirksame Impfstoffe gegen das Corona-Virus entwickelt wurden, aber anschließend – so jedenfalls jetzt die gesellschaftliche Grundstimmung – lief es in der Umsetzung der Impfstrategie nur schleppend. Auch wenn der Prozess inzwischen etwas an Fahrt aufgenommen hat, von Herdenimmunität, wie sie in Großbritannien und Israel erreicht zu sein scheint, sind wir noch meilenweit entfernt: Herdenimmunität ist laut WHO bei 60 bis 70% erreicht, momentan liegen wir bei knapp 7% der Gesamtbevölkerung, die vollständig geimpft sind,[1] mindestens eine Impfung erhalten haben ca. 20% der Bevölkerung.
Gerechtigkeit durch Freiheitsbeschränkung für alle?
Sozialethisch wird momentan vorrangig die Thematik der Gerechtigkeit gerade im Blick auf die Frage debattiert, ob den Geimpften nicht sofort ihre Freiheitsrechte, die durch die bundes- und landesweit verfügten Regelungen z.T. massiv eingeschränkt sind, zurückgegeben werden müssten. Zu Beginn dieser Debatte war von den Privilegien für die Geimpften die Rede – und dabei ist die Terminologie zunächst das Interessante, das aber auch schon auf die inhaltliche Problematik hinweist. Aus der Logik des Grundrechtsdenkens heraus muss selbstverständlich darauf hingewiesen werden – und das hat sich in der Zwischenzeit auch herumgesprochen –, dass es in keiner Weise um Privilegien, also um Bevorzugung Einzelner und um Ausstattung mit Sonderrechten zu tun ist. Auch Peter Schallenberg argumentiert diesbezüglich, dass es „sich nicht um erworbene oder gar zugestandene Privilegien (handelt), sondern um natürliche Rechte, die mit der Impfung nicht mehr verweigert werden dürfen.“[2] Es geht also, so die Argumentation aus dieser Perspektive, um die dem Menschen ohne Wenn und Aber zustehenden Freiheitsrechte, deren Einschränkung begründungspflichtig ist, nicht deren Rückgabe! Diese Begründung für ein trotzdem formuliertes Aber soll weiter unten erfolgen.
Nur allzu berechtigt und verständlich ist jedenfalls der Wunsch, dass erfolgreich, d.h. doppelt Geimpfte (ebenso wie Genesene) endlich wieder in die Normalität, die sich etwa artikuliert in privaten Besuchskontakten, in Museum-, Konzert- und Theaterbesuchen, im Shoppen und im Reisen, zurückkehren können. Und damit sind wir an einem entscheidenden und ethisch höchst relevanten Punkt angelangt:
Die Münsteraner Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert greift diese Debatte auf und sieht sich zu deutlichem Widerspruch genötigt all denen gegenüber, die hier trotz der klaren Grundrechtsperspektive ein Aber und ein Trotzdem einbringen. Ihr Artikel in der FAZ[3], der auch überschrieben ist mit dem Untertitel „Nachhilfe aus dem ethischen Proseminar“, trägt als einzig ethische Wahrheit, man könnte fast sagen, als Binsenweisheit, vor, dass es nicht „Gerechtigkeit durch Freiheitsbeschränkungen für alle“ geben kann. Sie hält diese Art der Argumentation für ein Kindergarten-Szenario: „Wenn fünfzehn Kleinstkinder sich um fünf übrig gebliebene Gummibärchen balgen, mag es vernünftig sein, die Süßigkeiten keinem zu geben und sie aufzuheben. Um des lieben Friedens willen.“ Solches Procedere bezeichnet sie als „Levelling down“. Aber schon bei älteren Kindern, erst recht jedoch bei Erwachsenen sieht sie keine Notwendigkeit, sie „vor der Zumutung eigener Neidgefühle“ zu schützen.
Abgesehen davon, dass solche Vergleiche bekanntermaßen immer hinken, enthält dieser Ansatz meines Erachtens zwei grundsätzliche Denkfehler: Zum einen spricht Bettina Schöne-Seifert in ihren weiteren Ausführungen davon, dass es im Blick auf die Impffrage kein Ressourcenknappheitsproblem, sondern ein Immunitätsproblem gibt. Das aber stimmt sicher für die augenblickliche Situation nicht. Definitiv haben wir momentan noch ein Ressourcenproblem. Es fehlt offenkundig an Impfdosen – die Frage nach den selbstverschuldeten und/oder den in der Natur der Sache liegenden Gründen sei hier mal außen vor gelassen. Aus meiner Perspektive spielt es schon eine große Rolle für die Antwort auf die Frage nach der Rückkehr zu den Freiheiten, ob auch tatsächlich für alle Bürger und Bürgerinnen ein Impfangebot gemacht werden kann.
Gerechtigkeit als Solidaritätskonsens aller Impfwilligen!
Ein zweiter Problempunkt ist im Blick auf den Ansatz von Bettina Schöne-Seifert anzusprechen: Der Gedanke der Solidarität taucht in ihrem Beitrag an keiner Stelle auf, gehört aber m.E. zur Beantwortung der Frage nach der Gerechtigkeit unabdingbar hinzu. Denn das, was Schöne-Seifert und diverse Politiker und Politikerinnen, nicht zuletzt der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, für selbstverständlich halten, nämlich die selbstverständliche und sofortige Rückgabe aller Freiheiten bedeutet in unserer derzeitigen Lage letztlich die Abkehr vom Prinzip der Solidarität.
Die bisherige Strategie, durch diese Pandemie zu kommen, baute immer auf dem Zusammenhalt in dieser Gesellschaft auf. Würde nun die Gesellschaft durch die vollständige Rückgabe aller Rechte an die Geimpften zu einer Zweiklassengesellschaft, in deren einer Klasse der weitaus größte Teil der noch vergeblich auf einen Impftermin wartenden Bürger und Bürgerinnen wären, dann würde vermutlich der soziale Frieden in unserer Gesellschaft deutlich gefährdet und, damit verbunden, auch die weitere Akzeptanz der Impfstrategie. Zudem: die deutlich kleinere Klasse der bereits Geimpften hat diesen Status ja erreicht gerade aufgrund der Solidarität der Gesamtgesellschaft. Dass die besonders Vulnerablen einerseits und die, die an vorderster Front kämpfen um das Wohlergehen der Schwerstkranken und Sterbenden, andererseits völlig zu Recht zuerst geimpft werden, beruht auf einem stillschweigend hergestellten Konsens der Mehrheit dieser Gesellschaft, auf der Solidarität dieser Gesellschaft. Man könnte von einem spezifischen Gesellschaftsvertrag bzw. einem Solidaritätspakt sprechen. Nun von Seiten derer, die in den Genuss dieser Solidarität gekommen sind, eben diese Solidarität aufzukündigen bzw. diesen Schritt von Staatsseite aus als Lockvogel auszusenden, widerspricht jedweder Gerechtigkeit im Sinne einer Gleichheit innerhalb der Gruppe der Impfwilligen. Das, was um des Friedens in der Gesellschaft willen auf jeden Fall vermieden werden muss, ist die Ausgrenzung von Menschen, die keinerlei Schuld trifft – heißt auf unsere Frage bezogen, von Menschen, die noch auf einen Impftermin warten müssen. Selbstverständlich bedeutet all das auch, dass, wenn der weitaus größte Teil der Bevölkerung geimpft ist, es keinen Grund mehr gibt, die Rechte vorzuenthalten. Davon profitieren dann ggf. die Impfverweigerer, aber mit einer kleinen Gruppe solcher Trittbrettfahrer wird und muss die Gesellschaft leben.
Der Deutsche Ethikrat hat zu dieser Frage auch Stellung genommen, das Ergebnis gleicht dem hier entwickelten, aber erstaunlicherweise weniger ethisch als eher pragmatisch argumentierend im Blick auf den Ablauf der Impfkampagne. Darüber hinaus kommt ein virologischer Aspekt zur Sprache, es heißt dort: „Eine vorherige individuelle Rücknahme von Freiheitsbeschränkungen nur für geimpfte Personen ließe sich allenfalls dann rechtfertigen, wenn hinreichend gesichert wäre, dass sie das Virus nicht mehr weiterverbreiten können.“[4] Hinsichtlich dieser Frage hatte es gerade in den letzten Tagen eine durchaus erfreuliche Nachricht gegeben, die aber doch in der öffentlichen Kommunikation schnell simplifiziert und damit verfälscht wurde: Was kolportiert wurde, war, dass das RKI veröffentlicht habe, dass Geimpfte das Virus gar nicht weitergeben könnten. Das aber ist eine sehr selektive Auslegung der neuesten Erkenntnisse: Was das RKI tatsächlich gesagt hat, ist, dass Menschen, die sich trotz Impfung erneut infizieren, das Virus deutlich weniger weiterverbreiten als Menschen, die noch nicht geimpft sind, aber nach einer Ansteckung symptomlos sind und einen negativen Antigenschnelltest haben. Das ist also kein Freibrief für die Geimpften. Und bei dem Anliegen der Rückgabe der Rechte geht es ja eben nicht nur um kleine Erleichterungen, sondern um das ganze Programm der Freiheiten und Grundrechte.
Allerdings sollte – und darauf weist auch der Deutsche Ethikrat mit Recht hin – ein etwas anderer Ansatz im Blick auf Alters- und Pflegeheime gewählt werden, kann es doch nicht sein, dass die Menschen dort, nahezu alle geimpft, immer noch unter den gleichen rigiden Beschränkungen leben müssen, die auch für sie zum Teil gar nicht verständlich und nachvollziehbar sind. Hier bedeutet Gerechtigkeit herstellen, was ja der klassischen Definition nach heißt, jedem das Seine zu geben, tatsächlich auch auf deren konkrete Situation zu schauen. Ein Altersheim stellt sicher keine völlige Enklave dar, aber schon eine Einheit, in der durchaus andere, eigene Gesetze aufgenommen werden können, um den betroffenen Menschen ein Leben in Würde zu ermöglichen.
Schauen wir abschließend auf einen nächsten Schritt, dann scheint bei zunehmender Menge an zur Verfügung stehendem Impfstoff die Weitung der Priorisierungsregeln anzustehen. In der Tat ist dann wiederum in Konsequenz des Solidaritätspaktes unserer Gesellschaft zunächst vorrangig mit Impfangeboten in soziale Brennpunkte zu gehen, wo Menschen aufgrund prekärer Lebensverhältnisse nahe und eng beieinander wohnen und die Verbreitung des Virus aufgrund dieser Umstände schwerer als andersnorts verhindert werden kann, wo auch die sozialen und psychischen Folgen der Lockdown bedingten Einschränkungen in besonderem Maße spürbar sind.
Der Wert der Gerechtigkeit wird auch in Fragen der Impfthematik nicht in Reinform zu realisieren sein, sondern immer in Konkurrenz zu anderen Werten stehen: hier geht es vor allem um die Rede von Freiheit und Solidarität. Das christlich-sozialethische Denken weiß darum, dass Gerechtigkeit immer eine regulative Idee bleiben und als abwägende Gerechtigkeit verstanden wird. Es geht um den gerechten Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Interessen und Ansprüchen, um so letztlich dem Anspruch jedes und jeder Einzelnen auf ein Leben in Würde gerecht werden zu können.
Gerechtigkeit voranzubringen, auch und gerade in Impffragen im Kontext dieser Pandemie, ist damit nicht vorrangig eine Frage des Staates oder des Marktes, sondern es bedarf definitiv in besonderer Weise der Zivilgesellschaft und ihres Solidaritätspaktes: Ferdinand von Schirach schreibt in seinem neuesten Buch mit dem Titel „Jeder Mensch“, auch bezogen auf die Corona-Pandemie, dass „(n)ichts […] eine solche Kraft (hat) wie der gemeinsame Wille der Bürgerinnen und Bürger. Es sind ja unsere Gesellschaft, unsere Welt und unser Leben. Und wir sind es, die Verantwortung für die Menschen tragen, die schwächer sind als wir.“[5]
[1] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-impfung-daten-100.html
[2] https://www.corona-ethik.de/artikel/keynes-in-zeiten-von-corona-die-zeit-des-nachtwaechterstaates-ist-endgueltig-vorbei/
[3] Normalität — ja was denn sonst? FAZ 11. März 2021, NR. 59, S. 11.
[4] https://www.ethikrat.org/mitteilungen/mitteilungen/2021/besondere-regeln-fuer-geimpfte/
[5] Schirach, Ferdinand von (2021): Jeder Mensch. München, S. 23 f.