Stefan Gaßmann | 11. Februar 2021
Corona als sozialethische Herausforderung
Bericht zum Berliner Werkstattgespräch 2021
Das diesjährige „Berliner Werkstattgespräch“ der Arbeitsgemeinschaft Christliche Sozialethik (AG CSE), in der alle katholischen Sozialethikerinnen und Sozialethiker des deutschsprachigen Raumes zusammengeschlossen sind, konnte pandemiebedingt nicht als Tagung in Berlin stattfinden, sondern nur als Videokonferenz. Thema der Tagung war die sozialethische Reflexion der Ursache dafür, dass man nur digital zusammenkommen konnte: die Corona-Pandemie.
Dazu wurden in zwei Panels insgesamt vier Vorträge gehalten, die unterschiedliche ethische Dimensionen der Corona-Krise beleuchteten. Im ersten Panel sprach zunächst Prof. em. Dr. Manfred Spieker (Osnabrück) zum Thema: „Überlebenschancen und Sterberisiken in der Corona-Pandemie. Irrwege der Triage-Ethik.“ Daran schloss sich das Referat Prof. Dr. Martin Schneiders (Eichstätt) an: „Von der Aktion zur Reaktion. Die Frage der Krisen-Bewältigung als Paradigmawechsel.“ Das zweite Panel wurde eröffnet von Dr. Gregor Buß’ (Trier) Vortrag unter dem Titel: ‚„Wir wollen nicht gerettet werden.‘ (G. Spivak). Die Corona-Pandemie in Afrika und die Kontinuität kolonialer Rhetorik.“ Die Vortragsreihe beschloss Prof. Dr. Jochen Ostheimer (Graz) mit seinen Ausführungen zu: „Corona-Klimawandel-Resilienz. Überlegungen zur gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit.“
Manfred Spiekers Kernanliegen in seinem Vortrag war es im Wesentlichen fünf Irrwege der Triage-Ethik aufzuzeigen. Triage meint, dass bei knappen medizinischen Ressourcen, etwa Intensivbetten und Beatmungsgeräten, der behandelnde Arzt entscheiden muss, wenn nicht für alle Patienten ausreichend Behandlungskapazitäten vorhanden sind, welche Patienten behandelt werden und welche nicht. Dabei kann man zwischen einer ex-ante- und einer ex-post-Triage unterscheiden. Erster Begriff meint, dass die Entscheidung des Arztes vor dem Beginn einer Behandlung fällt. Die zweite Variante bezeichnet den Fall, dass die Behandlung eines Patienten beendet wird, damit die durch dessen Behandlung in Anspruch genommenen Ressourcen für einen anderen, der beispielsweise eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit hat, genutzt werden können.
Spieker zeigte auf, dass eine ex-post-Triage ethisch nicht zu rechtfertigen sei. Einen ersten Irrweg überschrieb er mit „Diskriminierung“: Nicht der Staat und auch kein Arzt könne über den Wert eines Lebens entscheiden. Kriterien, nach denen die Behandlung eines Patienten zugunsten eines anderen – wie etwa einer Mutter vor einem Alleinstehenden, oder eines jüngeren vor einem älteren – aufgenommen werden bzw. die bereits begonnene Behandlung abgebrochen werden dürfe, könne es nicht geben. Die gleiche Würde eines jeden Lebens gelte immer und unbedingt, könne folglich niemals mit dem ‚Wert‘ eines anderen Lebens verrechnet werden.
In den selben „Irrtum“ liefe auch der zweite Irrweg einer „quantifizierenden“ Perspektive, die nach der Maxime auswähle, möglichst viele Lebensjahre zu retten. Das führe faktisch zu einer Diskriminierung nach Alter und damit einer Entscheidung über Wert oder Unwert des Lebens eines Patienten. Den dritten Irrweg bezeichnete Spieker als „Gleichstellung von ex-ante- und ex-post-Triage“. Dies sei insofern ein Irrweg, als dass bei der ex-Post-Triage aktiv eine medizinisch indizierte Behandlung abgebrochen würde, bei der gar nicht sicher sei, ob der behandelte Patient tatsächlich ohnehin sterben würde bzw. der Patient mit der größeren Überlebenswahrscheinlichkeit, zu dessen Gunsten die Behandlung beendet würde, tatsächlich auch überlebe. Dies sei faktisch eine Tötung. Dahingegen sei eine Nichtbehandlung eines Patienten aufgrund knapper Ressourcen, wie bei der ex-ante-Triage, zwar tragisch, aber keine Tötung. In die gleiche Richtung argumentierte er auch beim vierten und fünften Irrweg.
Der vierte Irrweg sei eine „Gleichstellung von Handeln und Unterlassen“. Spieker stellte einer solchen Gleichsetzung gegenüber klar, dass eine Nichtbehandlung auf Grund der Tatsache, dass nicht genügend Ressourcen für die Behandlung zur Verfügung stünden, keine Unterlassung sei, ein Abbruch einer Behandlung aber gleichwohl das Unterlassen einer Hilfeleistung darstelle. Den fünften Irrweg nannte Spieker „die Unvermeidbarkeit der Schuld“. Auch hier stellte er klar, dass ein Unterlassen einer Behandlung aufgrund knapper Ressourcen natürlich Leid nach sich zöge, man aber dem Arzt hier keine persönliche Schuld zusprechen dürfe. Schuld könne er nur auf sich laden, wenn er eine Behandlung abbreche und damit aktiv töte. Insofern sei Schuld vermeidbar, indem auf die ex-post-Triage verzichtet werde.
Martin Schneider konstatierte in seinem Vortrag zunächst eine Diskursverschiebung. Seine grundlegende These dabei ist, dass wir gegenwärtig eine Kränkung der Moderne erlebten, weil die Moderne den Anspruch erhebe, alles Unbedingte bedingt oder fassbar zu machen und somit einen umfassenden Gestaltungsanspruch erhebe. Alles müsse aus moderner Perspektive in Wissen transponiert werden und damit prognostizier- und kontrollierbar sein. Die Erfahrung der letzten Jahre sei aber, dass auch höchst unwahrscheinliche Ereignisse einträten, was zu einer Nichtprognostizierbarkeit der Zukunft führe. Genau hieraus ergebe sich die Verschiebung im Diskurs: Wichtiger werde es Nicht-Wissen zu reflektieren und „Vorbereitet zu sein“.
Dies ließe sich beispielsweise an der Debatte um das Gesundheitssystem in der Corona-Krise illustrieren: So sei unser Gesundheitssystem nicht für den – unwahrscheinlichen – Pandemiefall gewappnet gewesen und dementsprechend krisenanfällig. Schneider differenzierte diese Grundthese dann in einer räumlichen und einer zeitlichen Perspektive aus: So sei etwa in räumlicher Perspektive die Störanfälligkeit von Systemen auch durch deren globale Interdependenz bedingt. Der Diskurs verschiebe sich daher insgesamt, und wohl noch einmal befeuert durch die Corona-Krise, vom Kontrollparadigma hin zu der Frage, wie man Systeme resilient gestalten könne, sie also besser auf Unwägbarkeiten und Unvorhergesehenes reagieren könnten und robuster würden.
Dabei machte er insgesamt sieben relevante Punkte in diesem neuen Diskurs aus: Erstens gebe es überhaupt ein neues Problembewusstsein; zweitens sei es notwendig mit Offenheiten und Uneindeutigkeiten umzugehen, also Ambiguitätstoleranz zu entwickeln; drittens werde die Entwicklung von Puffersystemen bedeutsamer; viertens die Schaffung sogenannter modularer Strukturen, in denen sich Teilsysteme nötigenfalls auch eigenständig versorgen könnten, um so aus dem interdependenten Netzwerk herausgenommen zu werden, falls die Gefahr bestünde, dass von ihnen sich eine nachteilige Entwicklung auf alle Systeme ausbreite. Fünftes gelte es Offenheit und Diversität zuzulassen: Wenn ein bestimmter Entwicklungspfad nicht mehr gangbar sein sollte, müssten mehrere andere zur Verfügung stehen, auf die man sich dann einstellen könne. Es ginge dabei, so sein sechster Punkt, zentral um den Erhalt der Handlungsfähigkeit. Insgesamt könne man, so siebtens, von einem Umdenken hin von stabilen zu sogenannten vitalen, lernenden Systemen sprechen. Ethisch habe sich daher der Fokus auf das Bedenken von Passivitäten oder Vulnerabilitäten zu richten.
Das zweite Panel eröffnete Gregor Buß damit, dass er zunächst die bisherigen auf dem afrikanischen Kontinent erzielten Erfolge in der Eindämmung der Corona-Pandemie beschrieb. So sei die Pandemie auf dem afrikanischen Kontinent gut im Griff, wofür er eine Vielzahl möglicher Erklärungen abgab: Afrikanerinnen und Afrikaner hätten möglicherweise insgesamt ein robusteres Immunsystem, da sie häufiger mit Krankheiten konfrontiert seien. Alte lebten im Regelfall nicht zusammen in einem Seniorenheim, sondern in ihren Familien. Zudem hätten die afrikanischen Staaten bereits Erfahrung mit der Bekämpfung und Eindämmung von Epidemien. Auch hätten die Regierungen schnell und entschlossen reagiert und es seien zudem viele technische Innovationen entwickelt worden, etwa solarbetriebene Beatmungsgeräte, die den Bedingungen bei der Versorgung von Kranken in den afrikanischen Staaten besser entsprächen.
In einem zweiten Schritt kontrastierte er diese Erfolgsgeschichte mit der Berichterstattung darüber in westlichen Medien. Diese ließe sich im Großen und Ganzen einem von drei Typen zuordnen. Die erste Weise mit dem pandemischen Geschehen auf dem afrikanischen Kontinent umzugehen sei ignorieren. Die zweite ein alarmierender Katastrophismus, die dritte ein Mystifizieren der Erfolge, etwa in der häufiger zu lesenden Formel des „Afrika-Rätsels“. In einem nächsten Schritt wies Buß dann auf, dass diese drei Weisen der Berichterstattung den drei Modi kolonialen Sprechens, die Gayatri Chakravorty Spivak ausmacht, entspreche: Das Ignorieren entspreche dem „Silencing“ der vermeintllich Subalternen. Sie sollen stumm bleiben und nicht mit eigener Stimme sprechen können. Das Alarmieren entspreche dem Modus des „White Saviorism“: Die Afrikaner alleine steuerten in die Katastrophe und nur die Weißen könnten sie retten, laute dann so verstanden der Subtext des Katastrophismus in der westlichen Berichterstattung über das pandemische Geschehen in Afrika. Und das Mystifizieren entspreche dem sogenannten „Othering“. Afrikaner würden als anders, exotisch, rätselhaft dargestellt. Diese sogenannte epistemische Ungerechtigkeit verbände sich zudem nach Buß mit einer sozialen Ungerechtigkeit, die er als invertierte Option für die Armen bezeichnete. So sei der Corona-Impfstoff von Astra Zeneca für afrikanische Statten um ein Vielfaches teurer als für europäische Staaten.
Abschließend skizzierte Buß ein Modell, wie es aus westlicher Perspektive gerade wegen solcher sozialen Ungerechtigkeit trotzdem möglich sein könnte zum Fürsprecher der afrikanischen Staaten zu werden, ohne dabei in die Muster des kolonialen Sprechens zurückzufallen. Dieses Modell bezeichnete er als „stotternde Solidarität“, die sich in ihrem Sprechen immer wieder gerade auch theologisch unterbrechen und sich anfragen lasse, ob die jeweilige Fürsprache nicht in die Muster etwa des „White Saviorism“ oder des „Silencing“ verfalle, die Betroffenen also nicht mehr selbst zu Wort kommen ließe, sondern sie stumm hielte.
Der letzte Vortrag Jochen Ostheimers überschnitt sich inhaltlich in vielen Punkten mit demjenigen Martin Schneiders. Er nahm jedoch einen nachgerade konträren Standpunkt ein, indem er als Ausgangsthese in den Raum stellte, dass gerade die moderne Gesellschaft immer schon eine Krisengesellschaft gewesen sei. Er verglich davon ausgehend die Corona-Krise mit der Klimakrise, um die häufig zu hörende These zu überprüfen, dass man aus der Bewältigung der Corona-Krise für die Bewältigung der Klimakrise lernen könne. Dabei zeigte sich jedoch an vielen Stellen, dass beide Krisen unterschiedliche Typen von Problemen darstellten.
So gebe es zunächst Unterschiede in der Zeitstruktur: Die Corona-Krise sei viel dynamischer und zudem auch unmittelbar wahrnehmbarer, wodurch sie viel stärker emotionalisiere als die Klima-Krise. Zudem sei sie ein monokausales Phänomen mit einer eindeutigen Ursache: dem Erreger SARS-CoV-2. Die Klimakrise hingegen sei ein vielschichtigeres Problem. Drohende Überflutungen etwa hingen nicht allein mit extremeren Wetterlagen oder steigendem Meeresspiegel zusammen, sondern auch etwa mit Flächenversiegelung. Zudem sei die Bedrohungslage bei der Klima-Krise nicht so unmittelbar wie bei der Corona-Krise, sondern beträfe in der westlichen Wahrnehmung zumeist den globalen Süden oder künftige Generationen. Dadurch emotionalisiere diese Krise auch nicht so stark, wie die Corona-Krise. Dementsprechend hätten Politiker bei der Corona-Krise, die eine Sehnsucht nach der „sichtbaren Hand“ des Staates wecke, auch eine viel größere Möglichkeit, sich als souveräne Akteure zu profilieren. Das sei in Bezug auf die Klimakrise zum einen nicht analog möglich, zum anderen auch nicht wünschenswert: Weder ist die Krise durch nationalstaatliche Akteure in den Griff zu bekommen, noch wäre es erstrebenswert die harten Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie auch zur Bekämpfung der Klima-Krise anzuwenden. Die Klimakrise sei eben nicht mit einfachen und drastischen Mitteln zu lösen, sondern bedürfe eines sehr kleinteiligen Transformationsprozesses.
Dementsprechend beschrieb Ostheimer mit Kategorien des Soziologen Herbert A. Simon die Corona-Krise als ein einfach strukturiertes Problem mit klarer Ursache und klaren Lösungen. Die Klimakrise hingegen sei ein schlecht strukturiertes Problem, das man auch „vertrackt“ nennen könnte. Die stabilitätsorientierten Lösungsstrategien in Bezug auf die Corona-Krise ließen sich daher auch nicht als Lösungsmodelle für die Klimakrise heranziehen, da sie eine nicht zentral steuerbare Veränderungsstrategie erfordere. Wohl aber könnten Erfahrungen aus der Corona-Krise Teil eines Mentalitätswandels sein, etwa in Bezug auf das Abhalten von Videokonferenzen statt Treffen in physischer Präsenz. Ebenso könnten die Erfahrungen mit den Konjunkturprogrammen für einen notwendigen Strukturwandel fruchtbar gemacht werden.