Bettina Jarasch MdA | 7. Juli 2020

Eine besondere Zeit mit besonderen Herausforderungen – aber kein Ausnahmezustand

Eine neue Dimension ethischer Konflikte in akuten Entscheidungssituationen

Der Umgang mit der Corona-Pandemie hat Politik und Gesellschaft mit ethischen Problemen und Dilemmata konfrontiert, die uns viele Jahre erspart geblieben sind. Unser vergleichsweise gut ausgestattetes Gesundheitssystem hat es dem medizinischen Personal in den allermeisten Fällen erlaubt, allen Patientinnen und Patienten die nötige (wenn auch nicht immer die bestmögliche) Behandlung zukommen zu lassen. Abwägungsentscheidungen gab es natürlich auch vorher schon, aber nur bei Organtransplantationen musste Menschen eine lebensrettende Behandlung verwehrt werden, da es nicht genügend Organspenden gab.

Der ungebremste Anstieg an Corona-Erkrankungen jedoch hat Ärztinnen und Ärzten in anderen europäischen Staaten wie Italien bereits ganz konkret vor die Entscheidung gestellt, welche Erkrankten Beatmungsgeräte bekommen und welche Erkrankten aufgegeben werden müssen. Diese Entscheidungen nennt man Triage. Es sind Entscheidungen, die diejenigen, die sie treffen müssen, psychisch schwer belasten und überfordern können – auch wenn sie nach bestem Wissen und Gewissen und anhand von Kriterien getroffen worden sind, die medizinische Fachgesellschaften und mit ihnen der Deutsche Ethikrat empfehlen. Nach den falschen Kriterien getroffen, können sie zu Entscheidungen über wertes und unwertes Leben führen.

Die große Einigkeit über die Notwendigkeit der Eindämmungsmaßnahmen gegen eine zu rasche Ausbreitung des Virus ist im öffentlichen Diskurs hierzulande längst wieder vorbei. Das ist auch gut so: Zu demokratisch legitimierten Entscheidungen gehört der Streit der Argumente und Positionen, ebenso wie die Notwendigkeit, Entscheidungen zu begründen, anstatt sie einfach als alternativlos hinzustellen. Ethisch rechtfertigt allerdings das Ziel, Triage-Situationen zu vermeiden, auch manche Maßnahmen, die aus anderer Sicht übertrieben erscheinen. Die bleibende Herausforderung wird sein, unsere Gesellschaft und unser Gesundheitssystem resilient zu machen gegen Pandemien. Damit Ärztinnen und Ärzte auch künftig nicht entscheiden müssen, wessen Leben sie versuchen zu retten und wen sie aufgeben.

Menschenwürde als Maßstab beim Schutz des Lebens und der Grundrechte

Eine solche Zielsetzung, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, damit das Gesundheitssystem die Versorgung der Erkrankten bewältigen kann, ist aber zu unterscheiden von einer Verabsolutierung des Gesundheitsschutzes nach dem Motto „Es geht um Leben oder Tod, da verbieten sich alle weiteren Fragen“.

Es sind viele Grundrechte eingeschränkt worden, um den Shutdown von Gesellschaft und Wirtschaft durchzusetzen. Grundrechte dürfen aber selbst in Krisenzeiten nicht umstandslos ausgesetzt werden. Ihre Einschränkung ist begründungspflichtig, muss verhältnismäßig sein und so gering wie möglich. Auch das Recht auf Leben kann nicht ohne Rücksicht auf alle anderen Rechte durchgesetzt werden. Umso weniger, wenn das Leben von Menschen gegen ihren eigenen Willen geschützt werden soll. In den zahlreichen medizinethischen Diskussionen um Beginn und Ende des menschlichen Lebens hat sich das ZdK immer für den Schutz des Lebens stark gemacht, diesen aber auch immer in Einklang mit dem Recht auf Selbstbestimmung im Sinne von Patientenrechten zu bringen versucht.

Palliativmediziner haben im Blick auf die intensivmedizinische Behandlung von Corona-Erkrankten zu Recht eingefordert, Patientinnen und Patienten stärker danach zu befragen, ob sie eine solche Behandlung überhaupt wünschen, also den Patientenwillen wieder zu stärken. Gesundheitsschutz um jeden Preis droht sonst zu paternalistischer Entmündigung zu werden. Das gilt auch im Blick auf die in den vergangenen Wochen isolierten Menschen in Pflege- und Altersheimen und noch mehr für die Begleitung von schwerkranken und sterbenden Coronapatienten.

Es ist entscheidend zu verstehen, dass es bei der Eindämmung der Pandemie nicht darum geht, das Virus zu vernichten. Covid19 wird nicht mehr verschwinden, genauso wenig wie das HIV-Virus oder das Grippevirus. Wir werden vielmehr lernen müssen, mit dem Virus zu leben. Das bedeutet, auch ein Restrisiko in Kauf zu nehmen, wenn es um existentielle Nöte von Menschen geht. Fragt man die Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen oder Sterbende nach ihrem Willen, dann gibt es viele, die lieber eine Infektion mit dem Virus in Kauf nehmen würden, als einsam und isoliert zu leben – und zu sterben. Es ist eine Frage der Menschenwürde, ihnen Besuch oder den Abschied von ihren Liebsten zu ermöglichen.

Es gibt Menschen, für die die Folgen der Schutzmaßnahmen besonders belastend sind. Das sind neben einsamen oder psychisch belasteten Menschen auch Kinder und Jugendliche. Viele von ihnen kommen mit digitalen Lernangeboten allein nicht zurecht. Für geflüchtete Kinder in engen Gemeinschaftsunterkünften gilt das in verschärfter Weise. Sie drohen den Anschluss unwiderruflich zu verlieren, wenn sie nicht bald wieder in Kontakt mit Schule kommen. Hier kommen Grundrechte in Konflikt miteinander. Dafür braucht es Lösungen, die möglichst auch dem Recht auf Bildung Rechnung tragen.

Starke Demokratie und starke Zivilgesellschaft – gegen Verschwörungstheorien

Ein demokratischer Rechtsstaat braucht eine starke Zivilgesellschaft, er braucht die Möglichkeit, abweichende Positionen und auch Protest öffentlich zu äußern und er braucht die Kontrolle von Macht. Die Verlagerung der Macht auf die Exekutive ist in einer Notsituation ein Stück weit unvermeidlich. Dennoch ist es beunruhigend, wie schnell die Debatte über Notparlamente an Fahrt aufnahm und wie viele Abgeordnete offenbar bereit waren und sind, ihre parlamentarischen Kontrollrechte abzugeben. Wenn wir unsere Gesellschaft resilienter machen wollen für Pandemien, müssen wir diese Grundsäulen der Demokratie dringend stärken.

Zu diesen Grundpfeilern gehört auch die Versammlungsfreiheit. Was sich aber in Berlin und anderswo an vermeintlich um die Demokratie und Meinungsfreiheit besorgten Bürgerinnen und Bürgern als sogenannter „Widerstand 2020“ sammelt, ist zutiefst antidemokratisch. Es handelt sich um eine neue Querfront aus Rechts- und Linksextremen, Impfgegnern, Antisemiten und Verschwörungstheoretikern. Beklatscht wird unterschiedslos alles, was gegen „die da oben“ geht, einig sind sich alle in der Feindlichkeit gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen und Empirie. Sie setzen auf den Ausnahmezustand.

Was dagegen zu tun ist, ist das so lohnende wie mühsame Geschäft der Aufklärung. Der Reduktion von Komplexität auf vermeintlich einfache Antworten und Schuldzuweisungen zu widerstehen, selbst zu urteilen, Wissenschaft und Forschung ernst zu nehmen, ohne die politischen Entscheidungen an sie zu delegieren. Zuletzt: als Bürgerinnen und Bürger die Gesellschaft selbst aktiv mitzugestalten. Das ist in den nächsten Monaten vielleicht so spannend wie nie zuvor. Denn wenn wir wollen, dass die Gesellschaft zukunftsfähiger und krisenfester wird, dann darf es eben kein möglichst rasches Zurück zur alten Normalität geben. Wir müssen die Chance nutzen, aus den Erfahrungen im Umgang mit Corona zu lernen. Denn was vorher schon nicht gut war, funktioniert in einer Pandemie überhaupt nicht mehr. Zugleich sind wir alle herausgerissen aus unserem Alltag, der uns im Griff hatte. Das ist eine Chance, neue Wege auszuprobieren, die wir nicht versäumen sollten.

Erstveröffentlichung durch das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) https://www.zdk.de/

Die Verfasserin

Bettina Jarasch ist Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin und Sprecherin des ZdK-Sachbereichs „Politische und ethische Grundfragen“.