Michael Wedell | 7. Juli 2020

Eine neue Wirtschaft nach der Krise?

Den Strukturwandel beschleunigen

Die Regierungen in Bund und Ländern haben beispiellose Maßnahmen ergriffen, um die Verbreitung des Coronavirus zu verlangsamen. Bereits heute können wir sagen, dass viele dieser Maßnahmen gewirkt haben und noch immer wirken. Ausgangssperren sind drastische Mittel, gerade für die Schwächsten unserer Gesellschaft. Nach mehreren Wochen mit Kontaktbeschränkungen, geschlossenen Schulen und Kitas und starken Einschränkungen des öffentlichen Lebens, sehnen sich wohl die meisten Menschen zu einer Rückkehr zur Normalität. Die Stimmung ist bei vielen gereizt, auch dies ist nachvollziehbar. Rückbesinnung kann helfen und das Bewusstsein dafür stärken, was wir wirklich brauchen in unserer Gesellschaft. Schon jetzt zeigt die Krise viele solidarische, nachbarschaftliche Ansätze, die ein wertvoller Beitrag für ein neues Miteinander sein können.

Die Menschen im Land folgen einem richtigen Instinkt, wenn sie in der Corona-Krise ihre Blicke zunächst auf die Betroffenen sowie diejenigen richten, die die Krankheit an vorderster Front bekämpfen: all jene, die im Gesundheitssektor tätig sind und die vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer, die unsere Unterstützung und Anerkennung verdienen. Gleichzeitig muss an dieser Stelle deutlich werden: Wertschätzung und Anerkennung bestehen nicht (nur) aus Applaus und Worten des Dankes. Die Anerkennung muss auch kurzfristig und dauerhaft in einer besseren Bezahlung von Pflegeberufen etabliert werden.

Die Corona-Krise hat große Teile des Wirtschaftslebens zum Erliegen gebracht: Wir erleben einen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage bei einem gleichzeitigen Rückgang des Angebots. Dies ist eine explosive Situation, gepaart mit großer Unsicherheit sowie Liquiditätsproblemen. Hunderttausende Menschen verlieren Einkommen. Viele kleine und mittlere Unternehmen wissen nicht, wie sie ihre Mitarbeiter und Lieferanten in diesem Monat bezahlen sollen. Großunternehmen bangen um ihre Zukunftsfähigkeit im rauen Weltmarkt, neuer Protektionismus macht sich breit.

Obwohl die anfänglichen wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise denen einer Depression gleichen, besteht die Chance einer nicht langsamen konjunkturellen Erholung, vor allem, weil die Politik viele sinnvolle wirtschaftspolitische Maßnahmen vornimmt. Das effektivste Instrument dafür ist in der kurzen Frist schlicht die Bekämpfung der Epidemie. Alle anderen Mittel sind wirkungslos, wenn wir das Virus nicht in den Griff bekommen. Erst wenn dieses vorrangige Problem gelöst ist, kann die Wirtschaft wieder in Schwung kommen. Eine staatliche Bereitstellung von Schutzkleidung, die Ausweitung von Tests und die Entwicklung einer frühzeitigen Strategie zur Erhaltung des öffentlichen Lebens unter Auflagen in Zeiten einer Pandemie – all dies sind Maßnahmen, die derzeit getrost auch als Wirtschaftspolitik bezeichnet werden dürfen. Zusätzlich unterstützt eine solche Politik individuelle und solidarische Schutzmaßnahmen.

Insolvenzen wirksam vermeiden

Während die Regierung bei der Bekämpfung des Virus in der Tat neue Wege beschreitet, setzt sie beim Kampf gegen die Wirtschaftskrise auf Altbekanntes: Kurzarbeitergeld, KfW-Kredite, Steuerstundungen, Rettungsfonds, Konjunkturpakete. Eine zusätzliche Ausweitung des Kurzarbeitergeldes ist sinnvoll und hält die Menschen in den Betrieben. Auch die Bereitstellung von Krediten ist wichtig. Die Regierung sollte jedoch darauf achten, dass die zur Verfügung gestellte Liquidität auch bei kleinen und mittleren Unternehmen und natürlich Selbständigen ankommt. Dabei müssen die Hausbanken mitziehen und einen kleinen Teil des Risikos auf sich nehmen – ein Schritt, der vielen gerade schwerfällt. Aber nur so können Insolvenzen wirksam vermieden werden. Am Ende der Krise sollte die Regierung überlegen, ob ein Teil der Kredite in Transferzahlungen umgewandelt werden kann. Solche Transfers könnten zum Beispiel durch eine höhere Besteuerung von zukünftigen Unternehmensgewinnen finanziert werden.

Die Krise stellt neue Fragen an Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Wir hatten eine lange Phase der Hochkonjunktur, die aber mitunter auch zu Selbstzufriedenheit und Sattheit geführt hat. Jetzt gilt es, das Modell Deutschland für eine künftige Zeit neu zu begründen. Deshalb ist es jetzt wichtig, Strategien zu entwickeln, um die Wiederaufnahme der Wirtschaftstätigkeit mit dem Eindämmen der Corona-Epidemie vereinbar zu machen. Die entscheidende Frage lautet also:

Welche Wirtschaft wollen wir für die Zukunft und wie können wir sie erreichen?

Der brutale Stopp von globalen Produktions- und Lieferketten durch das Virus gibt den Unternehmen die Chance, ihre technologischen Plattformen neu auszurichten. Behutsamer Wandel weicht dem grundsätzlichen, Entwicklungsstufen werden übersprungen. Ein Beispiel dafür ist die Umstellung der deutschen Stahlindustrie auf grünen Wasserstoff, der zu 100 Prozent aus regenerativen Energiequellen gewonnen wird. Ein sehr ehrgeiziges Ziel, das den deutschen Stahl dann zum saubersten der Welt machen würde. Die Krise könnte dazu genutzt werden, diesen Strukturwandel zu beschleunigen.

Millionen deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erleben derzeit ein digitales Erwachen: Home Office, Video-Konferenzen und Arbeiten in der Cloud. Sie entwickeln ein Gespür dafür, wann und wie digitale Tools helfen – und wann das persönliche Gespräch die bessere Option ist. Diese Normalisierung im Umgang mit der neuen Arbeitswelt wird unserer Wirtschaft guttun. Bliebe noch das Problem mit der unzureichenden Infrastruktur: Löcher im Mobilfunknetz, fehlende Glasfaser-Anbindungen, unzureichende IT-Kapazitäten in den Unternehmen. Wenn die Bundesregierung ein Konjunkturprogramm im dreistelligen Milliardenbereich auf die Beine stellt, scheint klar, wohin ein großer Teil der Gelder fließen sollte.

Nicht zuletzt der Lebensmittelhandel zeigt uns in diesen Wochen, wie flexibel er ist und wie er den Menschen hilft, dass sie sich keine Sorgen um Lebensmittel machen müssen. Der Handel und auch viele Gastronomen beliefern Menschen, die ihre Wohnungen nicht verlassen können, und leisten damit einen wichtigen Beitrag. Gleichzeitig verstehen die Menschen heute mehr denn je, wie eng sie mit ihren lokalen Unternehmen verbunden sind – mit dem Bäcker, dem Café, dem Fitnessstudio. Das gleiche gilt – auf anderer Ebene – für viele Unternehmen: Sie merken, dass sie auch mit ihren lokalen Geschäftspartnern eng verbunden sind, dass wir mehr Transparenz in den globalen Lieferketten brauchen und Outsourcing nicht alle Probleme lösen kann. Auch hier gilt: Die Krise kann ein Treiber sein, um sich nachhaltiger aufzustellen.

Erstveröffentlichung durch das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) https://www.zdk.de/

Der Verfasser

Michael Wedell ist Partner der internationalen Unternehmensberatung Brunswick Group sowie Sprecher des ZdK-Sachbereichs 3 „Wirtschaft und Soziales“.