Peter Schallenberg | 11. Dezember 2021
Impfpflicht als kleineres moralisches Übel
Peter Schallenberg argumentiert für die Einführung einer Impfpflicht
Aus moraltheologischer Sicht plädiere ich nach längerem Zögern und Abwägung verschiedener Gesichtspunkte, anders als noch vor einigen Wochen, jetzt doch für die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht für Jugendliche und Erwachsene ab 12 Jahren (außer in Fällen ärztlich attestierter und medizinisch indizierter Ausnahmen, etwa im Fall einer Schwangerschaft). Die Impfung bewirkt nämlich den Schutz des Geimpften vor Ansteckung (ca. 67%) und schwerem Krankheitsverlauf (ca. 90%) in den weit überwiegenden Fällen; sie reduziert auch die Wahrscheinlichkeit der Ansteckung anderer Personen (etwa 20-fach geringere Wahrscheinlichkeit).
Ich betrachte diese staatliche Impfpflicht angesichts der pandemischen Notlage als sogenanntes „minus malum“, als kleineres moralisches Übel eines staatlich vorgeschriebenen Eingriffs in das Grundrecht körperlicher Unversehrtheit, um Folgeschäden wirtschaftlicher und psychischer Art zu vermeiden, und vor allem zugunsten einer dauerhaften Aufrechterhaltung unseres intensivmedizinischen Gesundheitssystems, das ansonsten angesichts der oft wochenlangen Belegung der Intensivbetten mit Covid 19-Kranken kollabieren würde. Natürlich kann man zu Recht beklagen, dass seit Beginn der Corona-Pandemie viel zu wenig getan wurde, um die Krankenhäuser und ihre Intensivstationen zu ertüchtigen. Aber gleichwohl: Jetzt ist es für einen schnellen und effizienten Ausbau der Intensivstationen zu spät, denn natürlich braucht es nicht nur Betten und Maschinen, sondern vor allem geschultes und – wohlgemerkt! – exzellent bezahltes Pflegepersonal, das wir kurz- und mittelfristig nicht haben. Sehr viele unserer Intensivstationen und Intensivbetten sind aber belegt durch schwere Verläufe von Covid 19-Erkrankungen, so dass inzwischen in sehr vielen Krankenhäusern lebensnotwendige Operationen, insbesondere in der Onkologie, mit notwendiger intensivmedizinischer Behandlung und Betreuung aufgeschoben werden müssen, und nicht nur elektive Eingriffe (etwa Meniskus-OP oder künstliches Hüftgelenk).
Eine besondere und dramatische Form der „triage“, der Priorisierung von Kranken angesichts fehlender intensivmedizinischer Betten und entsprechend geschulter Pflege, macht sich breit; man schaue sich nur entsprechende Berichte der größten deutschen Onkologie in der Charité in Berlin an. Die Sterblichkeit eines ungeimpften Covid 19-Patienten auf der Intensivstation liegt bei etwa 30%. Hier hätten viele andere Intensivpatienten mit anderen Erkrankungen bessere Überlebenschancen – und deswegen mehr Recht auf ein knappes Bett? Diese „bepflegten“ Intensivbetten aber würden nicht fehlen, wenn sie nicht zum großen Teil belegt wären durch Patienten, die schwerwiegend an Covid 19 erkrankt sind, und die wiederum zum größten Teil ungeimpft waren. Die Notfallversorgung ist durch die große Zahl ungeimpfter Corona-Patienten, die eine lange und personalintensive Pflege brauchen, in eine katastrophale Schieflage geraten.
Ja, es gibt auch viele Impfdurchbrüche, also Erkrankungen von geimpften Menschen, allerdings zum großen Teil mit weniger schweren und langwierigen Verläufen, sehr viel weniger auf intensivmedizinische Maßnahmen angewiesen.
Ja, die Argumentation hat sich geändert: Schien zu Beginn der Pandemie eine sterile Immunität durch 85 bis 90% geimpfter Bevölkerung erreichbar zu sein – wobei noch niemand von der Impfung von Kindern oder Jugendlichen sprach – und daher politisch ratsam, so ist nach dem Auftreten der Varianten (Delta und Omikron vor allem) diese Hoffnung der eher nüchternen und bitteren Erkenntnis gewichen, dass wir auf lange Zeit mit dieser vermutlich immer neu variablen Virusinfektion zu leben haben. Angesichts der schweren Verläufe der Infektion aber bei ungeimpften Personen ist unser Gesundheitswesen, unser Krankenhaussystem darauf nicht eingestellt. Aus der Achterbahnfahrt ständig neuer Infektionswellen und ständig neuer Lockdowns, einer seit zwei Jahren gedrosselten Wirtschaft und Kultur, sowie eines ständig eingeschränkten Schulbetriebes kommen wir meines Erachtens und nach Auskunft der Mehrheit aller Fachmediziner nur heraus mit der Einführung der allgemeinen Impfpflicht.
Es ist die staatlich verordnete und gesetzlich angeordnete Einforderung einer gesellschaftlichen Solidarität zugunsten der Schwächeren, in diesem Fall vor allem der Patienten, die dringend und oft lebensnotwendig auf intensivmedizinische Behandlung angewiesen sind, aber auch der Pflegekräfte und der im Schulbereich tätigen Personen. Natürlich hat der Staat nicht die Aufgabe, das Individuum vor jeder möglichen Gesundheitsgefährdung zwangsweise und gegen dessen Willen zu schützen – obwohl etwa die staatliche Anschnallpflicht im Auto oder die Pflicht zum Tragen eines Helmes beim Motorradfahren weniger zum Schutz anderer Mitmenschen, als zum Schutz der Individuen selbst, auch wider besseres Wissen, besteh Aber der Staat hat das Recht, Freiheiten von Individuen zu beschneiden zu Gunsten der Freiheiten und Rechte anderer Menschen, um mit Hilfe der Impfpflicht eine möglichst hohe Zielimpfquote und damit geringere Infektionen zu erreichen. Ob eine solche Impfpflicht insgesamt dazu beitragen wird, auf Dauer auch eine „sterile Immunität“ oder eine Herdenimmunität zu erreichen und damit zu einer dauerhaften Minimierung des Risikos einer Infektion beitragen kann, bleibt zunächst abzuwarten. Angesichts der geringen schweren Nebenwirkungen der Impfung gegen Covid 19 kann dies auch zunächst abgewartet werden. Nicht abgewartet hingegen kann eine weitere Überlastung der Notfallmediziner und der Intensivstationen. Selbstbestimmung setzt aus Sicht der Ethik die gesundheitliche Solidarität mit den anderen voraus.
Ja, es handelt sich um einen erheblichen Eingriff in das garantierte Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Aber moralisch ist dieser Eingriff nach einer Güterabwägung zwischen individuellen Freiheitsrechten und den Rechten der auf intensivmedizinische Hilfe angewiesenen Menschen zulässig, sofern, erstens, besonders vulnerable Personen durch medizinische Atteste von der Impfpflicht befreit sein können, und, zweitens, nach sorgfältiger parlamentarischer Debatte und ohne Fraktionszwang über eine entsprechende gesetzlich verordnete Impfpflicht im Bundestag abgestimmt wird. Das ist das in einer Demokratie vorgesehene Verfahren, auch und gerade im Fall der Einschränkung von Grundrechten.
Die Ethik und das moralische Empfinden agieren nicht im luftleeren Raum; sie sind wie die in der Abenddämmerung fliegende Eule der Minerva, nach der im Tageslicht erfolgten Sammlung und Sichtung wissenschaftlicher Fakten. Dann muss am Ende eine Entscheidung erfolgen, die, außer im Fall des Grundrechtes auf Leben, immer eine Güterabwägung ist, möglichst unpolemisch und unaggressiv. Die Mehrheit der medizinischen Experten aber hält die Impfung für weitgehend ungefährlich und effizient im Kampf gegen Covid 19. Vielleicht wird sie auch mittelfristig nach Entwicklung leistungsfähiger Medikamente (wie Molnupiravir oder Paxlovid) überflüssig werden. Die Ethik täte meines Erachtens gut daran, dieser Empfehlung der medizinisch-virologischen Wissenschaft zu folgen. Vielleicht ist die Impfpflicht dann sogar eine Liebespflicht zugunsten derer, die auf Intensivstationen dringend angewiesen sind?
Zuerst erschienen in: Die Tagespost, Ausg. v. 09.12.2021