Stefan Gaßmann | 12. Juli 2021
Bundestagswahl und Corona-Krise
Ein Blick in die Wahlprogramme
Die Corona-Krise kann noch keineswegs als überstanden gelten. Mitten in dieser Phase, in der nicht klar ist, ob der Herbst möglicherweise wieder trotz voranschreitender Impfkampagne mit einer sich verschärfenden Lage einhergehen wird und COVID-19 weltweit weiterhin viele Menschenleben fordert, sind die Deutschen aufgerufen, einen neuen Bundestag zu wählen und damit auch die Bildung einer neuen Regierung mitzubestimmen.
Dabei ist die Corona-Politik aus Sicht katholischer Sozialethik kein untergeordnetes Thema: Das Prinzip des Lebensschutzes bezieht sich nicht nur auf den Beginn und das Ende des Lebens, sondern beinhaltet auch den Gesundheitsschutz: Ist die menschliche Person „Grundlage und Ziel der politischen Gemeinschaft“ (vgl. Pastorale Konstitution Gaudium et spes Nr. 25), dann ist der Staat zu ihrem Schutz verpflichtet. Personalität kann sich aber nur entfalten, wenn der Staat die körperliche Unversehrtheit und das Leben der menschlichen Person schützt. Gleichzeitig darf aber der Gesundheitsschutz und damit das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit nicht einseitig über andere Grundrechte der menschlichen Person gestellt werden. Es bedarf einer vernünftigen Abwägung. Insofern kann aus Sicht der Soziallehre diskutiert werden, welche Mittel den bestmöglichen Kompromiss zwischen Gesundheitsschutz und dem Schutz anderer Grundrechte bieten.
So kann man fragen, ob die Verhängung eines Lockdowns in diesem Sinne ein probates Mittel des Gesundheitsschutzes sein kann. Die grundsätzliche Schutzpflicht des Staates steht aber aus Sicht der Soziallehre in der Corona-Pandemie nicht in Frage. Zudem liegt die Verantwortung der politischen Gemeinschaft immer auf der Sicherstellung der Personwürde aller Menschen. Das bedeutet im Sinne des Solidaritätsprinzips, dass Staaten angesichts einer globalen Pandemie immer auch Verantwortung für Personen in anderen Staaten mit zu übernehmen haben. Dies beinhaltet auch für eine globale Verteilungsgerechtigkeit bei Impfstoffen einzutreten und sich mit denjenigen zu solidarisieren, die – im Inland wie im Ausland – stärker von den Folgen der Corona-Krise betroffen sind. Grund genug also sich die Wahlprogramme der sechs derzeit im Bundestag vertretenen Parteien einmal genauer anzusehen.
Dabei fällt zunächst auf: Die Corona-Krise ist in allen Wahlprogrammen häufig präsent, aber in den meisten Fällen dient sie nur als rhetorischer Ausgangspunkt nach dem Muster: „Die Corona-Krise hat gezeigt, dass …“. Explizite Ausführungen zu Schutzmaßnahmen oder dem Umgang mit den unmittelbaren Folgen der Pandemie nehmen dahingegen in keinem Programm einen breiten Raum ein. Viele Positionierungen bleiben recht vage. Die deutlichste Divergenz zur katholischen Soziallehre hat trotz der Gedrängtheit ihrer Ausführungen in diesem Fall – wie übrigens auch in den meisten anderen Politikfeldern – die AfD, da sämtliche verpflichtende Corona-Schutzmaßnahmen abgelehnt werden und damit die Schutzpflicht des Staates grundsätzlich in Frage gestellt wird.
Die Positionen der anderen Parteien zu bewerten, ist dahingehend schwieriger, dass sie unterschiedliche Probleme adressieren. Die Grünen und die SPD etwa sind neben der AfD die einzigen Parteien, die sich in ihrem Programm überhaupt aktiv mit Fragen der weiteren Eindämmung der Pandemie auseinandersetzen und die internationale Gemeinschaft mit in den Blick nehmen. Dagegen adressieren die Programme von CDU/CSU, Die Linke und FDP eher die Zeit der Bewältigung der Pandemiefolgen. Wie sie sich etwa zur Frage nach internationaler Solidarität in der Impfstoffverteilung konkret positionieren, bleibt unklar.
Hier weisen Die Grünen auf dem ersten Blick zunächst eine große Nähe zu den Grundsätzen katholischer Soziallehre und -ethik auf, denn sie sind die einzige Partei, die konkreter bei den Fragen zur globalen Verteilungsgerechtigkeit von Impfstoffen und internationaler Zusammenarbeit zur Pandemie positioniert. Fraglich ist dabei allerdings, ob die Position, gegenüber der WHO auf eine zeitweilige Aussetzung des Patentschutzes für Corona-Impfstoffe zu drängen, mit dem Eigentumsbegriff der katholischen Soziallehre vereinbar ist; ob sich aus der Sozialpflichtigkeit des Eigentums eine solche Aussetzung des Patentschutzes begründen lässt, wird in der Sozialethik diskutiert und muss nicht per se als unvereinbar mit der Soziallehre gelten, ist aber gegenwärtig umstritten. Papst Franziskus etwa hat sich in einer Videobotschaft im Mai für eine Aufhebung des Patentschutzes ausgesprochen. Die SPD erklärt lediglich sich für die internationale Impfkampagne der WHO einzusetzen, wird allerdings in dieser Hinsicht nicht konkreter. Auch die Forderung zur Solidarität mit besonders betroffenen Branchen wird im SPD-Programm nicht weiter entfaltet.
Die Linke deutet zwar in der Einleitung ihres Programms in Verbindung mit dem Narrativ einer ungerechten Verteilung von Impfstoffen und Lasten aus der Corona-Krise zum Vorteil der Reichen an und nennt in ihren Überlegungen zur Entwicklungszusammenarbeit auch noch das Stichwort einer „solidarischen Pandemiebekämpfung“, das Thema internationaler Solidarität, wird aber in dieser Hinsicht nicht konkreter.
CDU/CSU setzen nur einen besonderen Akzent im Blick auf Kinder und Jugendliche. Auch das ist im Sinne des Solidaritätsprinzips der Soziallehre begrüßenswert, da Kinder und Jugendliche zu den größten Verlierern der Pandemie gehören. Die FDP adressiert vor allen Dingen die ökonomischen Folgen und fordert einen „Tilgungsturbo für Corona-Schulden“. Das ist aus Sicht der Soziallehre nur dann eine problematische Forderung, wenn sie zulasten der Solidarität mit den Schwächeren ginge, die in der Corona-Krise größere Einbußen hatten. Ob dies der Fall ist, kann hier nicht entschieden werden.
Wünschenswert wäre es freilich, wenn sich die Parteien insgesamt deutlicher mit dem Thema auseinandergesetzt hätten. Vielleicht hatte die Parteitage, die die Programme verabschiedet hatten, aber auch bereits die allseits um sich greifende und menschlich nachvollziehbare Corona-Müdigkeit erfasst. Zu hoffen bleibt, dass egal welche Parteien nach der Bundestagswahl an der Regierung beteiligt sein werden, sich alle entschieden dafür einsetzen, dass COVID-19 so wenige Menschenleben wie möglich fordert und den ökonomischen, sozialen und psychischen Folgend der Corona-Krise entschieden begegnet wird. Und das nicht nur im Blick auf das eigene Land.