Georg Rüter | 11. Januar 2021
Ein Rückblick auf das Corona-Jahr 2020
Ein winzig kleines Virus erinnerte die Krönung der Schöpfung an ihre Sterblichkeit; diese hatte man fast vergessen. Der Homo Deus wurde jäh mit der Tatsache konfrontiert, dass er offenkundig nicht auf der wirkmächtigeren Seite der Geschichte stand. Das Virus suchte und fand seine Wege rund um den Globus; in manchen Teilen besonders schlimm und folgenreich mit bisher fast zwei Millionen Toten. Bei uns in Deutschland schaffte es die Verbreitung in sehr unterschiedlichen Umgebungen: saufende Skifahrer und fröhliche Faschingsgäste, fleißige Fleischerkolonnen und fromme Freikirchler fungierten als Katapulte und verschafften im März der Fastenzeit und dann im Dezember der Adventszeit eine bisher gänzlich unbekannte strenge Ausprägung.
Im Alltag sichtbar wurde die Coronakrise in der Kleiderordnung, sofern man hiervon nach grenzenloser Liberalisierung überhaupt noch hatte sprechen können: Die auch von Ministern und DAX-Vorständen als Würgegriff empfundene feine italienische Seidenkrawatte wurde durch uniformmäßiges Bekleiden mit einem Textilfetzen im Gesicht ersetzt, der trotz anmutiger Vielfalt beim Dessin eine ästhetische Überzeugungskraft nicht entfalten konnte. Das Recycling von Stoffresten aus Wirtshaustischtüchern durch Ministerpräsidenten vergrößerte die Enttäuschung für alle Liebhaber der Haute Couture.
Seien wir ehrlich: entdeckten wir im behördlich verordneten Lockdown nicht alle streckenweise einen Charme der Askese, einer Chance zur inneren Einkehr und zur Ruhe vor den vielen Impulsen unseres Alltags- und Freizeitlebens? Manch einer freute sich über die nun offenkundige Redundanz der Dinge und Aktivitäten, die wir nach unserem persönlichen Geschmack – der sich selbstredend mit ökologischen oder sozialen Argumentationsmustern einen wissenschaftlich-rationalen Anstrich zu geben verstand – schon immer verurteilt hatten: die Kerosin fressenden Interkontinentalreisen zu Inseln, deren Strände sich kaum von denen auf Föhr oder Borkum unterschieden; die Touristifizierung der europäischen Innenstädte mit ihren malerischen Kultur- und Sakralbauten; die – euphemistisch mit Sport Utility bezeichneten – durch urbane Traktoristinnen gelenkten Stadtpanzer, bei deren Ausstieg an der KiTa die kleinen Passagiere Stehleitern benötigten; die Publikumssportveranstaltungen, mit denen sehr junge Männer ein Jahresgehalt bezogen, das weit über dem Lebenseinkommen solide qualifizierter Facharbeiter lag.
Ja, war nicht das Karussell der immerwährenden Partys und Events so schnell geworden, dass die Zentrifugalkraft seiner Rotation sowohl seine Fahrgäste als auch seine Bodenanker herauszuschleudern drohte? Abifeten auf Mallorca, Mädelsmeeting in Mailand und Adventsshopping in New York verkörperten ganz konkret „eine Welt, in der die Laune über die Norm triumphiert und eine Generation von Erben mit dem Vermächtnis mühsam erworbener Prinzipien ein fröhlich-verzweifeltes Feuerwerk veranstaltet, dessen Glut die Reichtümer wie die Wahrheiten dahinschmelzen lässt:“ (Joachim Fest, Die schwierige Freiheit).
Der puritanische Charme des Verzichts und der Askese wurde aber bald blasser, als die Verheerungen der realisierten Utopie (auch Joachim Fest, der sehr treffend den real existierenden Sozialismus bezeichnete) zutage traten: wer Ende März einmal die Tank- und Rastanlage Uttrichshausen-Ost aufsuchte, fühlte sich doch fatal erinnert an das zementgraue sozialistische Gesicht der HO-Gaststätte Michendorf, in der nicht verfügbare Speisenangebote häufiger anzutreffen waren als einfache Mahlzeiten, die mit Sättigungsbeilage, Rotkraut und Luxatorbrause verfeinert wurden.
650 eingemottete hochmoderne Flugzeuge und 30.000 von Arbeitslosigkeit bedrohte Mitarbeiter der Lufthansa erinnerten brutal an die gnadenlose Rigorosität, die in Sprache und Gesichtsausdruck einer jungen Schwedin bei ihrer Ansprache vor den Vereinten Nationen zu sehen war; seinerzeit mild weggeblendet voller gerührten Verständnisses für die unruhige Jugend. Diese erhöhte die Zahl ihrer Auftritte nicht, obwohl mangels Regelschulbetrieb reichlich Gelegenheit dafür bestanden hätte. Die Fridays for Future Bewegung hingegen präzisierte ihre klima- und wirtschaftspolitischen Vorstellungen: Kleinere Wohnungen und kleinere Autos heißt das Konzept; in den 50er und 60er Jahren war es ja auch gemütlich mit Radio in der Küche und zu viert hinten im Volkswagen Käfer.
Der 100 %ige Ökostromanteil entpuppte sich als rechnerische Banalität einer sonnig-windigen Witterungslage bei gleichzeitiger kompletter Schließung aller Gasthäuser, Ladengeschäfte, Hotels und zahlreicher Fabriken. Das Gesetz für erneuerbare Energie EEG wird kaum noch von den ursprünglichen Architekten oder von den heute verantwortlich Handelnden überblickt. Ein eilig anberaumter Ladesäulengipfel suggerierte zumindest in der Wortwahl die nationale Bedeutung der Subventionierung von Starkstromanschlüssen in Doppelgaragen von sich als ökologisch bewusst handelnd ausgebenden Zweitwagenbesitzern. Die Dienstwagenbesteuerung für gediegene Limousinen süddeutscher Marken wurde für Bankvorstände mit der Ökoprämie schlagartig niedriger als die von technischen Außendienstlern, die zwecks Sicherung ihrer Reichweite und Verfügbarkeit nach wie vor im Skoda Octavia Segment unterwegs sein müssen.
Staats- und Sozialversicherungskassen leerten sich in Windeseile, die noch vor kurzem von roten und grünen Parteien dämonisierte schwarze Null war schon im Sommer vom Winde verweht. Die Schuldenuhr beschleunigte stattdessen ihren Gang und erreichte mit 10.424 € Neuverschuldung pro Sekunde einen neuen Geschwindigkeitsrekord. Der mit ausufernder Staatsverschuldung leichtfüßig gezogene Wechsel auf die Zukunft unserer Kinder blendete lässig die unbequemen Wahrheiten eines Kassensturzes aus. Eine seriöse Antwort auf die Frage nach der Finanzierungsquelle für all die hemmungslos spendabel zugesagten Förderprogramme wurde mit vagen, aber stets selbstbewusst artikulierten Hinweisen auf Fürsorgepflichten, die weise Urteilskraft politischer Instanzen und wie gewohnt die unverzichtbaren Klimaschutzziele ins Nirwana verschoben.
Als die Bedrängung der im ökologischen Dauerschlaf vermuteten Autoindustrie in der sozial bedrückenden Realität von Entlassungswellen der Zulieferindustrie ankam, dämmerte es vielen Beobachtern, dass Volkswagen, Daimler und BMW nicht nur für Dieselbetrug, sondern vor allem für hohe und sichere Einkommen, intensive Forschungsaktivitäten und nicht zuletzt für milliardenschwere Steuerzahlungen von Unternehmen, Aktionären und Arbeitnehmern standen, welche eigentlich für den großen Strauß von als nachhaltig wichtig eingestuften Förderprojekten eingeplant worden waren. Einzig ein kleiner Abmahnverein vom Bodensee mit großspurigem Namen kultivierte seinen Narzissmus mit unverändert ausfälliger Polemik und arrogantem Weglassen des aktuellen Forschungsstandes bei Dieseltechnologien.
Die mit hohen gesetzlichen und finanziellen Anstrengungen herbeigesehnte Verkehrswende offenbarte eine völlig unerwartete Erscheinungsform, indem leere Busse und Geisterzüge durchs Land rauschten, Carsharing als hygienisch abstoßend empfunden wurde und der Individualverkehr zu neuer Blüte kam; mit dem Automobil und dem ebenfalls witterungsbedingt begünstigten Fahrrad einschließlich seiner motorgetriebenen Varianten. Mit machtvollen Warnstreiks half verdi den seit dessen Erfindung fast ungebrochenen Trend zum Automobil zu stabilisieren. Einige Großstädte unternahmen mit schleppender Arbeit der Zulassungsbehörden temporär wirksame Versuche einer Trendbremsung, aber bundesweit warf im Juli der seit zehn Jahren höchste Stand an Gebrauchtwagenzulassungen – die 70 % der Zulassungen und bei weniger betuchten Bevölkerungsschichten fast das gesamte Automobilerwerbsgeschehen ausmachen – ein wenig beachtetes Schlaglicht auf die Bedürfnislage breiter Bevölkerungsschichten, die im Übrigen nach wie vor mehrheitlich in Dörfern lebt.
Diese wurden attraktiver; nicht nur wegen des dort kleineren Infektionsgeschehens – das 3.000 Seelen Dorf Bippen war bis November ohne an Corona Erkrankte; hier hielt im Jahr 1969 der letzte Heckeneilzug auf seiner Fahrt von Rheine nach Oldenburg – und der größeren Gärten, sondern auch durch das Homeoffice, das den Weg an den Arbeitsplatz immer öfter ersparte. Mit einem Baustopp für alle Autobahnprojekte – auch für die aus dem Leber-Plan – wird das Verbleiben im Dorf nachhaltig unterstützt. Dem hilft das schnelle Internet, das die Phantasie von begegnungsloser, keimfreier Arbeitsteilung in der digitalen Welt beflügelt. Und damit das Ganze auch nicht dem Zufall oder gar der freien Entscheidung von Unternehmen und ihren Mitarbeitern überlassen wird, muss ein Gesetz her, das die hypermoderne Variante der bei älteren Menschen noch in Erinnerung gebliebenen Heimarbeit zwingend vorschreibt. Die Nichtgeltung des Homeoffice-Anspruchs für Pflegekräfte oder Feuerwehrleute wird sicher Gegenstand der Genderforschung werden.
Die kühle Präzision der digitalen Vernetzung schaffte die Übermittlung ebenso kühler Informationen und eröffnete neue interessante Rationalisierungspotentiale, die wir benötigen für die Sicherung von Wohlstand und Wohlfahrtsstaat. Zugleich nahm sie uns die Emotion der täglichen Begegnung mit unseren Mitmenschen, ihren Sorgen, Gemütszuständen und vor allem ihren spontanen Ideen. Aber solche müssen, ja dürfen gar nicht mehr entstehen, wenn wir die ökologisch-digital gelenkte Transformation unserer Wirtschaft durch weise politische Instanzen vorantreiben und nicht den als kurzsichtig eingestuften Willensbekundungen und Entscheidungen von Verbrauchern, Arbeitnehmern und Unternehmen überlassen wollen.
Bevor wir in die schöne neue digitale Welt ganz eintauchen, sollten wir aber ganz ernüchtert den intellektuellen Resonanzboden des Internets sowie der sogenannten Social Media befunden: das Meinen und Behaupten findet unter anderen Überprüfungsbedingungen statt, Verwahrlosung und Verpöbelung des Diskurses sind ebenso an der Tagesordnung wie die lebhafte Diskursbeteiligung bei gleichzeitiger Wissensarmut, die eine inhaltliche Verengung der Diskussionsräume herbeiführt. Die automatisierte Wortwahlofferte oder -substitution bewirkt eine hochwillkommene Absenkung nicht nur der sprachlichen, sondern auch der intellektuellen Zugangsschwelle.
Einsam und vor allem unbequem wird die Mahnung, Hochachtung und Wertschätzung gegenüber den unendlich komplizierten, von jedem Einzelnen individuell unterschiedlich wahrgenommenen und demzufolge nicht digitalisierbaren Zusammenhängen, Traditionen und Ritualen entgegenzubringen. Die Stabilität eines Gemeinwesens ist nicht auf binär verkürzten Algorithmen zu fundamentieren, sondern beruht auf einem hochkomplexen Diskurs, vielstimmiger Auseinandersetzung und einem Traditionsgeflecht, das so vielfältige Facetten beinhaltet, deren Wert weder in einer Generation entstanden geschweige von einer Generation adäquat gewürdigt werden kann. Haben wir erst mit den Verboten erkannt, welchen tröstenden Wert eine gut besuchte Beerdigung haben kann? Und können wir uns in diesem Jahr vielleicht darauf besinnen, worauf das Weihnachtsfest zurückzuführen ist? Die Grundlagen unserer Zivilisation sind Ergebnis menschlichen Handelns, nicht menschlichen Entwurfs.
Der selbst ernannte Homo Deus ist gut beraten, an die Autorität traditioneller Erfahrung anzuknüpfen, an kulturelle Ressourcen, die Menschen in die Lage versetzen, ihren Weg durch die Optionen zu finden. Dieser ist nicht leichter geworden, lehrte Corona doch, dass unser Wissen um unsere Unwissenheit noch nie so groß war wie heute (Jürgen Habermas). Wissenschaft muss der Hybris der Vernunft, die sich in Reißbrettentwürfen von Radikalreformen dokumentiert, entgegentreten. Rationalistischer Konstruktivismus entpuppt sich oftmals als Anmaßung von Wissen. Und so bleibt es Auftrag der Wissenschaft, Wahrheiten im Empathischen und auch normativ gehaltvollen Sinne zu entwickeln und dabei stets den nachstehenden Hinweis auf die Vorläufigkeit ihrer Aussagen nicht zu vergessen. Erfahrung wird wieder Bestandteil des Lernprozesses; ebenso die in digitalen Algorithmen als überholt geltenden wissenschaftlichen Prinzipien, wie der provisorische Charakter von Erkenntnissen, wieder vorübergehend zur Allgemeinbildung hinzugefügt werden. Wir stehen nicht vor dem Ende der bürgerlichen Gesellschaft, aber wir müssen achtgeben, dass wir nach Corona nicht mit weniger Freiheit, weniger Wohlstand und weniger Offenheit aufwachen.
Einer solchen intellektuell und mental sehr ernsten Herausforderung können wir uns vielleicht dann besonders gelassen nähern, wenn wir an langen Winterabenden noch einmal eintauchen in die fernere Welt der Utopie, die wir bei Raumpatrouille kennenlernen durften: Die vor gut 50 Jahren erstmals ausgestrahlte wunderbare Serie warf einen Blick in das Jahr 3000, in dem das Sonnenlicht überflüssig, die Kleidung reduktionistisch und das gesamte Ambiente im Schwarzweiß-Fernsehen ausreichend farbig wiedergegeben werden konnte. Die schaurige Gemütlichkeit der intergalaktischen Missionen unter Führung von Commander Mc Lane wurde immer eingeleitet mit der blechernen Stimme aus dem Jenseits „zehn, neun, acht, sieben…“. Bis zum Jahr 3000 ist es – Gott sei Dank – noch sehr weit.
Der Verfasser
Dr. Georg Rüter ist Geschäftsführer der Katholischen Hospitalvereinigung Ostwestfalen gem. GmbH in Bielefeld.